1318 - Terror am Totenbett
fühlen.
Das Haus besaß vier Seiten. Bevor ich mir irgendetwas überlegte, wollte ich mir jede anschauen. Mit ein wenig Glück würde mir auch ein Blick durch das Fenster ins Innere gelingen.
Jetzt hätte ich mir gewünscht, Claudia Andersons Handynummer zu kennen. Da hätte es sicherlich die eine oder andere Überraschung gegeben. Das war nicht der Fall, und so kam für mich die Hilfe der modernen Technik nicht in Frage.
Ich musste den alten Weg gehen und nahm ihn kurz entschlossen in Angriff…
***
Das künstliche Auge lag an der tiefsten Stelle zwischen ihren Händen, und Claudia unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei.
Es war feucht, es war fies, einfach eklig. Die künstliche Pupille glotzte sie an, und es hätte sie nicht gewundert, wenn aus ihr plötzlich eine Zunge gesprungen wäre.
Sie wusste auch nicht mehr, was sie denken sollte. Irgendwo war ein Vorhang gefallen. Sie stand neben dem Bett und kam sich vor, als wäre sie in eine andere Welt gebeamt worden. Und zugleich hatte sie das Gefühl, mit einem nassen Lappen ins Gesicht geschlagen worden zu sein.
Sie konnte nicht denken, nur starren. In ihrem Körper schlug nach wie vor das Herz, aber jeder Schlag hörte sich doppelt so laut an wie gewöhnlich. Er hallte sogar in ihrem Kopf wider. Zugleich hatte sie den Eindruck, als würde der Boden allmählich aufweichen und sie mit hinein in die Tiefe ziehen.
Dann hörte sie das Lachen.
Der Lord hatte es ausgestoßen. Er amüsierte sich. Er hatte seinen großen Spaß. In seinem Kopf mussten die Gedanken nicht mehr normal laufen. Da war einiges durcheinander. Senilität oder Altersdemenz. Beides trieb ihn zu diesen Scherzen hin.
Meckernd, triumphierend, hoch und schrill – das alles hörte Claudia aus diesem Gelächter heraus. Alles zusammengenommen war es ein großer Spaß, den er durchlebte. Wenn jemand näher darüber nachdachte, konnte der Lord so krank gar nicht sein. Das musste alles nur Tünche sein, um sein wahres Gesicht zu verbergen. Und natürlich auch das, was hinter allem steckte.
So sehr Claudia durch das Auge und das Lachen auch abgelenkt wurde, irgendwo in ihrem Kopf versuchte sie trotzdem, eine Lösung für das zu finden, was sie sah.
Sie hatte die Augen nicht geschlossen, aber genau erkennen konnte sie ihren Großonkel auch nicht. Die Welt vor ihr war mit einem Schleier bedeckt worden.
»Gib es wieder her!«
Da war seine Stimme, die das Lachen abgelöst hatte. Herrisch und befehlsgewohnt. So kannte sie ihn auch. So hatte sie ihn in Erinnerung. Scheiße!, dachte sie. Warum bin ich überhaupt gekommen? Ich hätte wegbleiben sollen.
Es war die Gier. Die verdammte Gier, die mich dazu getrieben hat. Die Gier nach dem Geld. Eine andere Möglichkeit gab es für sie nicht. Sie wollte Geld erben. Wie auch die anderen? Aber war das ein Fehler?
Im Prinzip nicht. So etwas gehörte zum menschlichen Dasein. Es war nur traurig, dass es dabei um das eine Thema ging und die Menschlichkeit auf der Strecke blieb.
»Hast du nicht gehört? Gib es her!«
Claudia erwachte aus ihrer Starre. Sie schaute nach vorn und konzentrierte sich auf den Lord.
Er lag nicht mehr. Jetzt hatte er sich aufgerichtet und ließ sie nicht aus den Augen. Er wirkte auf sie keinesfalls wie ein Schwerkranker, denn sein Blick war glasklar. Darin zeichnete sich nicht das Gefühl der Schmerzen ab.
Beide Arme hielt er ausgestreckt. Seine Hände winkten ihr zu.
Claudia konnte nicht anders, sie musste einfach in die leere Augenhöhle starren, und dabei bekam sie es mit der Angst zu tun. Was sie dort sah, war einfach grauenhaft, auch wenn sie nichts erkannte, weil diese Augenhöhle der Eingang zu etwas war, das sie als Schacht bezeichnete und sich tief im Dunkeln verlief.
Unheimlich war diese Leere. Angst konnte sie bekommen.
Furcht, die sich in ihren Körper hineingepresst hatte und ihr Herz wie mit Draht umklammerte.
Sie fürchtete sich davor. Obwohl sie nichts in dieser Höhle erkannte, hatte sie Angst. Sie schien einzufrieren. Über ihren Rücken rann ein eisiger Schauer.
»Her damit!«
Abermals zuckte sie unter dem harten Befehl zusammen. Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, das eklige Stück fallen zu lassen.
Sehr vorsichtig bewegte sie ihre Hände auf den Sitzenden zu, der leise vor sich hinlachte und wahrlich nicht den Eindruck eines Sterbenden machte. Im Gegenteil, einer wie er war kerngesund.
Als sie mit dem rechten Bein die Bettkante an der Seite berührte, blieb sie stehen. Die Lippen waren
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