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er mit großen Schritten zu der Tür des Turmes, die sich am Ende eines kurzen, gemauerten Treppenaufgangs befand. Er rief zwei der Männer in Kettenrüstung zu seiner Begleitung, befahl den anderen, im Hof zu warten, schob die Tür auf und fand sich in einem weitläufigen, runden Raum wieder, der als Lager für Feuerholz genutzt wurde und in dem Schinkenseiten und Kräuterbündel von den Deckenbalken herabhingen. Eine Treppe wand sich bis zur Hälfte der Wand hinauf, und der Priester stieg, ohne auf den Empfang durch einen Bediensteten zu warten, ins obere Stockwerk, das rauchgeschwängert war vom Kamin. Auf den alten Dielenbrettern lagen fadenscheinige Teppiche; auf zwei Holzkisten brannten Kerzen, denn obwohl es Tag war, hatte man die Fenster mit Decken gegen die Zugluft verhängt. Auf einem Tisch lagen zwei Bücher und einige Pergamente neben einem Tintenfässchen, einem Bündel Schreibfedern, einem Messer und einem alten, verrosteten Brustpanzer, der als Schale für drei runzlige Äpfel diente. Ein Stuhl stand neben dem Tisch, der Comte de Mouthoumet aber, der Herr dieses einsamen Turmes, lag in einem Bett dicht bei dem schwelenden Feuer. Ein grauhaariger Priester saß bei ihm, und zwei ältere Frauen knieten am Fußende. «Geht», befahl der Priester den dreien. Die beiden Männer in Kettenrüstung kamen hinter ihm die Treppe herauf und erfüllten den Raum mit unheilvoller Stimmung.
«Wer seid Ihr?», fragte der grauhaarige Priester beunruhigt.
«Ich habe gesagt, Ihr sollt gehen, also geht!»
«Er liegt im Sterben!»
«Geht!»
Der alte Priester, der ein Skapulier um den Hals trug, unterbrach das Sterbesakrament und folgte den beiden Frauen die Treppe hinunter. Der sterbende Mann musterte die Neuankömmlinge, sagte jedoch nichts. Sein Haar war lang und weiß, sein Bart nicht geschnitten, und seine Augen waren tief in die Augenhöhlen eingesunken. Er sah, wie der Priester den Falken auf dem Tisch absetzte.
Die Klauen des Vogels kratzten über das Holz. «Das ist eine
Calade
», erklärte der Priester.
«Eine
Calade
?», fragte der Comte sehr leise. Er starrte die schiefergrauen Federn des Vogels an und seine hell gestreifte Brust. «Es ist zu spät für eine
Calade
.»
«Ihr müsst den Glauben haben», sagte der Priester.
«Ich habe über achtzig Jahre gelebt», sagte der Comte, «und habe nun mehr Glauben als Zeit.»
«Dafür reicht Eure Zeit noch», sagte der Priester grimmig. Die beiden Männer mit den Kettenhemden standen schweigend oben an der Treppe. Die
Calade
machte ein maunzendes Geräusch, doch auf ein Fingerschnippen des Priesters wurde der Vogel mit der Kopfhaube still. «Habt Ihr die Sterbesakramente erhalten?», fragte der Priester.
«Vater Jacques wollte sie mir gerade spenden», sagte der Sterbende.
«Ich werde es tun», sagte der Priester.
«Wer seid Ihr?»
«Ich komme aus Avignon.»
«Vom Papst?»
«Von wem sonst?», fragte der Priester. Er ging durch den Raum, sah sich um, und der alte Mann beobachtete ihn dabei. Er sah einen großen Mann mit unerbittlichem Gesichtsausdruck, dessen Priestergewand von einem guten Schneider stammte. Als der Besucher eine Hand hob, um das Kruzifix zu berühren, das an der Wand hing, rutschte sein Ärmel zurück, sodass ein Futterstoff aus roter Seide sichtbar wurde. Der alte Mann kannte diese Sorte Priester, hart und ehrgeizig, reich und gewieft, die Sorte Priester, die sich nicht um die Armen sorgte, sondern die Leiter der klerikalen Macht erstieg, um in den Kreis der Begüterten und Privilegierten zu gelangen. Nun drehte der Priester sich um und richtete den gefühllosen Blick aus seinen grünen Augen auf den alten Mann. «Erklärt mir», sagte er, «wo
La Malice
ist.»
Der alte Mann zögerte eine Sekunde zu lange.
«La Malice?»
«Sagt mir, wo sie ist», forderte der Priester, und als der alte Mann schwieg, fügte er hinzu: «Ich komme vom Heiligen Vater. Ich befehle Euch, es mir zu sagen.»
«Ich weiß es nicht», flüsterte der alte Mann, «wie könnte ich es Euch also sagen?»
Ein Holzscheit im Kamin knackte und sprühte Funken. «Die Predigermönche», sagte der Priester, «haben ketzerische Lehren verbreitet.»
«Gott behüte», sagte der alte Mann.
«Habt Ihr sie gehört?»
Der Comte schüttelte den Kopf. «Ich höre wenig dieser Tage, Vater.»
Der Priester griff in einen Beutel, den er am Gürtel trug, und zog ein Stück Pergament heraus. «Das Schwert war im Besitze der Sieben Schattenfürsten», las er vor, «und sie sind
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