1373 - Die vergessene Sage
drehte ich mich um. Sie schaute mich wirklich so fragend an. »Nein, das ist kein Traum gewesen.«
»Ich meine doch.«
»Dann sieh auf meine Hände.«
Sie tat es und verdrehte die Augen. Ihre Hände waren ebenso gefesselt wie meine…
***
Glenda hatte nichts gesagt und sich in einen Sessel fallen lassen. Ich war in die Küche gegangen, um ein Sägemesser aus der Schublade zu holen. Damit würde es uns gelingen, die nicht sehr dicken Stricke durchzusägen. Es gelang mir zudem, einen Blick auf die Uhr zu werfen.
Die ersten Morgenstunden waren angebrochen, und ich dachte daran, dass die Zeit gleich abgelaufen war. Das alles wirklich in einer Nacht. Die Lade zog ich auf. Unter mehreren Messern konnte ich wählen, aber es war nur eines da, dessen Klinge eine Säge auswies.
Damit ging ich zurück in das Wohnzimmer. Glenda sagte nichts.
Sie streckte mir nur ihre gefesselten Hände entgegen.
Ich stellte das Messer hochkant zu ihr hin und hielt den Griff so fest wie möglich. Glenda rieb ihre Stricke an der Schneide. Die Fasern lösten sich schnell auf. Sie verlor keinen einzigen Tropfen Blut, als sie schließlich frei war und ihre Hände normal bewegen konnte.
Glenda massierte ein wenig ihre Gelenke, da sich das Blut doch gestaut hatte, dann befreite sie mich, indem sie mir kurzerhand die Stricke durchschnitt.
»Danke«, sagte ich.
Wir saßen uns gegenüber, schauten uns an, und in unseren Gesichtern war die Erleichterung zu lesen. Wir konnten auch wieder lächeln, was Glenda tat, als sie sagte: »Ich habe diese neue Kraft ja verflucht. Aber wo es einem Fluch gibt, da existiert auch ein Segen. Wenn Saladin das wüsste, würde er sich vor Wut selbst auffressen.«
»So ähnlich«, sagte ich und hörte damit auf, meine Handgelenke zu massieren.
Glenda wirkte sehr nachdenklich. Zu diesem Zeitpunkt passte auch ihre Frage.
»Haben wir wirklich alles überstanden?«
»Denk mal nach.«
»Ich glaube nicht.«
»Und was stört dich?«
Sie schaute zur offenen Tür hin und hinein in den kleinen Flur.
»Ich denke, da existiert noch ein Bild in meinem Schlafzimmer. Bitte, John, ich möchte es nicht in der Wohnung haben. Nimm du es doch und mach mit ihm, was du willst.«
»Erst schauen wir es uns mal an.«
»Wieso? Gibt es einen Grund, misstrauisch zu sein?«
Ich stand auf und ging zur Tür. Glenda folgte mir. Mit einer Antwort hatte ich mich bewusst zurückgehalten. Noch bevor wir die Tür zum Schlafzimmer geöffnet hatten, nahmen wir schon den anderen Geruch wahr.
»Das stimmt doch was nicht«, sagte Glenda.
Ich stieß die Tür auf.
Mein erster Blick fiel auf das Bett, auf dem wir das Bild zurückgelassen hatten.
Da sah ich die Bescherung!
***
Nur noch der Rahmen lag auf dem Oberbett. Der Geruch stammte von dem Zeug, auf dem vor langen Jahren ein gewisser Angelo Furletto seine Kunst hinterlassen hatte.
Es gab kein Motiv mehr, und es existiert auch keine Leinwand.
Was dort die Decke verschmutzte, war nichts anderes als ein verbrannter und wie von Säure zerfressener Rest, der einen aschig aussehenden und zugleich feuchten Klumpen bildete.
»Nun?«, fragte ich.
Glenda hob die Schultern. »Wusstest du Bescheid?«
»Nein.«
»Aber wer hat es zerstört?«
»Es sich selbst.«
Glenda blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du sagst das so direkt, aber wie ist das möglich?«
»Die Kraft ist weg, Glenda. Die höllische Kraft, die Celine wirklich mitgebracht hat. Aber ihr Geist hat keine Chance mehr gesehen, etwas zu richten. Er ist eingegangen in die Unendlichkeit und hat als Letztes das zerstört, das noch als Beweis übrig geblieben war. Zu viele Menschen haben Hoffnungen in das Bild gesetzt. Die Illuminati haben sogar nach einem Hinweis auf einen Templer-Schatz darin gesucht. Ich denke, dass wir beide die Wahrheit wissen.«
Glenda nickte. Dann sagte sie: »Ich will den Rahmen trotzdem nicht behalten. Er ist hässlich.«
»Keine Sorge, ich nehme ihn mit!«
»Wann denn?«
»So schnell wie möglich.«
Sie drehte sich um, sodass sie mich anschauen konnte. »Schnell ist relativ«, erklärte sie. »Ebenso wie die Zeit, und ich denke, dass wir beide noch Zeit genug haben.«
»Wofür?«
Sie runzelte die Stirn. »Zunächst mal für eine herrliche Dusche. Danach öffnest du uns eine Flasche Champagner, die schon lange in meinem Kühlschrank steht. Dazu gönnen wir uns einige Fingerfoods, die ich nur aufzutauen brauche…«
»Und anschließend?«, flüsterte ich, als meine Lippen über ihren Mund
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