1373 - Die vergessene Sage
vorhanden war, kippte es in meine Handfläche hinein und blieb mit der Vorderseite nach oben liegen.
Renaud konnte und musste es einfach sehen.
Er sah es auch!
Ich war gespannt auf seine Reaktion gewesen und hatte mir trotzdem nichts ausgemalt. Aber was er tat, das übertraf meine Erwartungen. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Er ging einen Schritt zurück, und sein Gesicht bekam einen völlig anderen Ausdruck. Das Staunen darin war regelrecht festgeschmiedet worden.
Er bewegte seine Lippen, dann schlug er die Hände gegen seine Wangen.
»Ja, das ist es – ja…«
»Ihr habt Recht. Es ist das Kreuz, das zu mir gehört.«
»Du bist nicht Richard Löwenherz?«
»Nein, der bin ich nicht. Aber du kannst mich anders ansprechen. Ich bin der Sohn des Lichts…«
***
Diese Antwort verstand er. Die musste er einfach verstehen, denn der Begriff »Sohn des Lichts« hatte auch den Templern damals etwas gesagt. Mehr als den heutigen. Zudem stammte das Kreuz aus dem Orient, in den die Templer und Kreuzzügler gereist waren. Sie mussten davon gehört haben, ebenso über die Legende vom Gral, und nun sah Renaud de Vichier genau dieses Kreuz vor sich.
Er fing sich wieder. Doch er zitterte noch immer. »Woher habt Ihr es?«
»Ich bin sein Erbe und möglicherweise der letzte Träger. Was nach meinem Tod damit geschieht, weiß ich nicht.«
Der Templer konnte seinen Blick nicht davon wenden. »Ja, wir wissen darüber Bescheid. Wer dieses Kreuz in seinem Besitz hat, gilt als sehr mächtig. Er ist wie ein König. Sagt man.«
Ich lächelte zu ihm hoch. »Es freut mich, dass Ihr es so genau wisst, und hoffe, dass Ihr nicht mehr vorhabt, mich und meine Begleiterin zu töten.«
»Nein, nein!« Er war immer noch konsterniert. »Nie hätte ich gedacht, es einmal sehen zu dürfen.« Er nickte mir heftig zu. »Es ist auch das echte Kreuz, das spüre ich. Die Kraft, die von ihm ausgeht. Darf ich es nehmen?«
Mit dieser Frage hatte er mich überrascht. Gern tat ich es nicht.
Ich musste eine Ausrede finden, um ihn davon abzubringen.
»Ihr dürft es unter einer Bedingung.«
»Wie lautet sie?«
»Nimm mir und meiner Begleiterin die Fesseln ab. Dann wirst du es an dich nehmen können.«
Er schaute mich an. Er dachte an einen Trick. Er musste sich entscheiden, und ich stand ebenfalls unter einer gewissen Spannung, bis plötzlich ein anderes Ereignis eintrat.
Neben mir stieß Glenda einen leisen Ruf voraus.
Ich drehte ihr kurz das Gesicht zu. »Was hast du?«
»Es kommt. Die Kraft, John. Das andere in mir. Die Welt hier. Sie bewegt sich, und es zieht sich wieder alles zusammen.« Sie berührte mich jetzt mit den gefesselten Händen, um mich nur nicht zu verlieren, wenn die unerklärliche Reise begann.
Der Templer schaute nur zu. Er wusste nicht, was hier geschah, und konnte deshalb nichts tun. Immer wieder bewegte er seinen Kopf, schaute mal mich und dann Glenda an.
Als ich den Schrecken auf seinem Gesicht entdeckte, wusste ich, dass unsere Reise dicht bevorstand. Ich erlebte das Ziehen am eigenen Körper, und dann sah ich, wie die Welt sich vor mir bewegte und ihre Weite verlor. Sie zog oder faltete sich zusammen. Es gab Überlappungen, die alles verschwinden ließen und auch uns erreichten.
Plötzlich war der vor und stehende Templer zu einem dünnen Strich geworden und wenig später gab es nichts mehr, was wir in dieser Zeit noch sahen…
***
Da war sie wieder. Diese Dunkelheit, dieses Zwischenreich, das keine Grenzen kannte und für uns so etwas wie eine Transitstrecke war.
Es gab nichts mehr zu erleben. Alles in uns war abgeschaltet. Es existierten nur die anderen Mächte, die nur bedingt etwas mit Magie zu tun hatten.
Das alles erlebte ich, aber es war für mich zeitlich nicht zu fassen.
Womöglich erlebte ich auch so etwas, wenn ich einmal den Weg ins Jenseits gehen musste.
Aber das Jenseits sah nicht aus wie ein Wohnzimmer, dessen Umrisse allmählich Konturen annahmen.
Es gab keine Feuer mehr. Keine Templer-Ritter in langen weißen Umhängen, keinen geköpften Maler Furletto und auch keine Celine de Vichier. Ich befand mich wieder in meiner Zeit, und der erste richtige Blick galt dem Fenster.
Hinter der Scheibe ballte sich noch immer die Dunkelheit. Es war also Nacht. Möglicherweise waren wir nur eine oder zwei Stunden fort gewesen.
Wir?
Ich sah Glenda nicht. Aber ich wusste, dass sie sich in meiner Nähe aufhielt, denn hinter mir hörte ich ihr Flüstern.
»War das alles ein Traum, John?«
Langsam
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