1375 - Wächterin der Toten
schaute auf die schmalen und gepflegten Wege, die das Gelände durchkreuzten.
An einer Seite, wo sich auch außerhalb der Mauer die Leichenhalle befand, wuchsen Sträucher so dicht beieinander, dass sie einen Durchblick verwehrten.
»Was liegt hinter den Gewächsen?«, fragte er Clara.
»Das alte Wasserbecken und ein Komposthaufen.«
»Keine Gräber?«
»Auch. Die Älteren. Sie werden kaum gepflegt. Dort sind die Menschen begraben, die nicht hier zur Dorfgemeinschaft gehörten. Fremde, die hier in der Nähe verstorben sind und nicht in ihre Heimatorte überführt wurden.«
»So ist das.«
»Ist es wichtig?«
Johnny lachte. »Kann ich dir nicht sagen.«
»Wir können es uns mal anschauen.«
»Ja, gut.«
Sie gingen hin. Clara hielt sich an Johnnys Seite und atmete heftig.
Ihr war die Sache noch immer nicht geheuer.
Johnny sagte nichts. Er konnte sich den Platz hinter den Büschen gut als Versteck vorstellen. Da bewegten sich die Ghouls sozusagen auf ihrem Heimatgelände.
»Es stinkt!«
Clara hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Es stank tatsächlich, und diesen Geruch wehte ihnen der schwache Wind entgegen.
Es war nicht der Geruch, der auf einen Friedhof gehörte. Er war wirklich eklig, und der Verdacht, dass er es mit Ghouls zu tun hatte, verstärkte sich immer mehr in Johnny. Plötzlich konnte er sich vorstellen, einem Leichenfresser gegenüberzustehen.
Waren sie wirklich da?
Johnny hielt Clara zurück. »Warte mal.«
»Und du?«
»Ich gehe vor.«
Sie wollte protestieren, da war Johnny schon weg. Er ging den Büschen entgegen, um nachzuschauen, was sich dahinter befand. Seine Schritte waren nicht mehr so locker. Er hatte das Gefühl, als läge die Luft schwer wie ein Druck auf ihm.
Johnny schaute über die Büsche hinweg. Er sah das, was ihm Clara erzählt hatte, aber er sah keinen Ghoul. Nur der Geruch war vorhanden. Der große Steinbehälter war mit brackigem, grünbraunem Wasser gefüllt. Daneben baute sich der Komposthaufen auf, von dem der Gestank verfaulter Pflanzen an Johnnys Nase drang.
War das der Geruch, der ihn gestört hatte?
Johnny ließ sich Zeit, die Stelle zu untersuchen. Er fand nichts, was auf die Anwesenheit eines Ghoul hingewiesen hätte. Mal abgesehen von diesem widerlichen Geruch.
Er drehte sich wieder um, als er den Ruf seiner Freundin hörte.
»Johnny, schnell!«
Clara Lintock stand nicht mehr an ihrem Platz. Sie war zu einer anderen Stelle des Friedhofs gelaufen und wartete dort auf ihn. Mit dem rechten Arm wies sie zu Boden, und da sie direkt vor einem Grab stand, ging Johnny davon aus, dass dort etwas Besonderes passiert sein musste.
»Das… das … ist unmöglich«, flüsterte sie. »Schau dir das an.«
Sie meinte damit zwei Gräber, die dicht beisammen lagen und ein Doppelgrab bildeten. Der große schwarze Stein mit dem Kreuz auf seiner Oberseite interessierte Johnny nicht. Er hatte nur Augen für die Graberde selbst, denn sie war aufgewühlt worden.
Jemand hatte dort wie ein Berserker gewühlt und auch all das, was auf dem Grab gestanden hatte, zur Seite geschleudert. Töpfe, Blumen, Schalen – da gab es nichts, was noch auf dem Doppelgrab stand.
Dann hatte dieser Jemand gegraben und die hervorgeholte Erde zur Seite geworfen. Aber er war nicht tief genug gekommen. Es gab zwar ein Loch, doch der Deckel eines Sargs oder eine halb verwesten Leiche waren nicht zu sehen.
»Das waren sie«, flüsterte Johnny. »Das müssen sie einfach gewesen sein. Darauf wette ich.«
»Aber warum haben sie aufgehört?«
»Sie sind vielleicht gestört worden.«
»Durch uns?«
»Wer weiß.« Johnny zuckte die Achseln. »Mich interessiert etwas ganz anderes. Ich frage mich nämlich, warum sie sich ausgerechnet dieses Grab hier ausgesucht haben. Das muss doch einen Grund gehabt haben. Oder meinst du nicht?«
»Doch. Ich kann dir auch sagen, warum sie es getan haben. Die Leiche, die hier liegt, ist noch am frischesten.« Clara schluckte, weil sie sich über die eigenen Worte erschreckt hatte.
Johnny schaute auf den Stein. Er las den Namen des Ehepaares Lambert. Der Mann war über 80 Jahre alt geworden und vor drei Jahren verstorben. Seine Frau war ihm vor drei Wochen gefolgt. Sie war also die jüngste Leiche auf dem Friedhof, und man konnte durchaus behaupten, dass sie am frischesten war. Das hatten auch die Ghouls gewusst oder gerochen – wie auch immer.
»Gut«, lobte Johnny. »Du hast es richtig erfasst. Es muss so gewesen sein.«
»Lieber hätte ich
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