1375 - Wächterin der Toten
fürchteten, diesen Ort zu betreten.
Hatten sie Recht mit ihrer Furcht?
Sie wollte sich nicht weiter mit diesen Fragen beschäftigen.
Außerdem wurde sie von einem Phänomen abgelenkt, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Es spielte sich hinter dem großen Kreuz ab, denn dort fing die Luft an zu zirkulieren.
Ob sie sich drehte oder ob sich etwas von unten her in die Höhe schob, das war nicht genau zu erkennen. Normal jedenfalls war das nicht, und Clara war sich zudem sicher, dass sie sich diese seltsame Bewegung nicht einbildete.
Dort kam etwas!
Die Spannung in ihr war kaum noch auszuhalten. Die kleinen Schweißtropfen auf ihrer Stirn schienen zu Eispartikeln geworden zu sein. Das Grab mit dem Kreuz verschwand vor ihren Augen, aber der Hintergrund blieb klar, um etwas zu zeigen.
Ja, keine Täuschung. Etwas war gekommen. Sogar eine Gestalt.
Groß und lautlos zugleich. Sie hatte sich aus dem Nichts oder vielleicht aus dem Boden in die Höhe geschoben. Sie war klein und groß zugleich. Sie erinnerte nicht nur an einen Geist, sie war einer.
Clara bekam den Mund vor Staunen nicht mehr zu. In ihrem Hals sammelten sich krächzende Laute, die einfach raus mussten. Sie wollte etwas sagen, aber es war ihr unmöglich, die Laute in Worte umzusetzen. Das Unglaubliche und Unwahrscheinliche war in eine Tatsache umgesetzt worden.
Hinter dem Grab ihrer Großmutter hatte sich eine geisterhafte Gestalt in die Höhe geschoben.
Und diese Gestalt war nicht nur einfach so da und ein Wesen ohne richtiges Gesicht.
Nein, Carla kannte es genau.
Das Gesicht gehörte ihr.
Die Gestalt war sie selbst!
***
In bestimmten Situationen fällt es manchen Menschen schwer, das zu erfassen, was sie mit den eigenen Augen sehen. So war es auch hier. Carla Lintock sah diese Gestalt, und sie wusste sehr deutlich, dass sie es war, die sich dort als feinstoffliches Etwas abmalte, aber sie war nicht in der Lage, dies umzusetzen.
In solchen Momenten schaltete sich bei einem Menschen oft das normale Denken aus, und das war auch hier geschehen. Sie fühlte sich nur noch als Körper ohne Inhalt, was einen Menschen wirklich ausmacht. Eine Statue, die staunt, aber nicht dachte.
Ja, das war sie!
Nicht angezogen, aber auch nicht nackt. Nur einfach da und durchscheinend, aber nicht nebelig.
Übergroß erschien Carla das Gesicht. Das helle Haar war vorhanden. Sie sah das unnatürliche Rot der Lippen, das bei dieser Erscheinung allerdings bleicher wirkte. Hinzu kamen die kleine, gerade gewachsene Nase, das weiche Kinn und die Augen, die eigentlich hätten hell sein müssen, es aber nicht waren. So sah sie ihre Pupillen als zwei dunkle Kreise an, die sehr ernst über das Grabkreuz hinweg schauten. Das lange, aschblonde, lockige Haar umwehte den Kopf, und der ernste Ausdruck in den Augen blieb weiterhin bestehen. Clara war, als wollte dieses Ebenbild ihr durch sein Schauen eine Warnung zuschicken.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Der Drang, einfach wegzulaufen, stieg in ihr hoch. Gleichzeitig merkte sie, dass es ihr nicht möglich war, sich zu bewegen. Sie blieb auf der Stelle stehen und kam sich vor wie festgenagelt.
Und wieder erwischte sie der kältere Strom, der ihr nach wie vor von vorn entgegen wehte. Als wäre er eine Botschaft, die allerdings nicht ihr Gehirn erreichte.
Die ersten Sekunden waren vergangen, ohne dass es ihr gelungen wäre, großartig nachzudenken. In dieser Spanne stand sie einfach in einem Vakuum. Erst später erlebte sie wieder die Normalität. Da hatte sie das Gefühl, dass ihr das Blut durch den Kopf rauschte. Jetzt war sie wieder in der Lage, einen normalen Gedanken zu fassen, und auch die Furcht war nicht mehr so stark vorhanden.
Plötzlich wurde sie von einer gewissen Neugierde erfasst. Sie sagte sich auch, dass sie vor sich selbst keine Furcht zu haben brauchte, und sie wollte zudem wissen, ob sie sich die Gestalt nicht eingebildet hatte, deshalb schloss sie die Augen.
Sie erlebte dabei ein gutes Gefühl, einfach so stehen zu bleiben.
Verschwunden waren die Sorgen und die schon leicht bedrückende Angst. Sie atmete durch, und sie wollte die Augen wieder öffnen, als sie plötzlich eine Stimme vernahm.
Ob die Stimme männlich oder weiblich war, fand sie nicht heraus.
Für Clara hörte sie sich neutral an, und was sie ihr sagte, das würde sie nie vergessen.
»Ich bin dein Schutzengel, Kind. Ich bin gekommen, um dich zu warnen. Lass es sein. Bleib nicht länger hier stehen. Geh wieder. Flieh. Lauf schnell
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