1375 - Wächterin der Toten
den anderen soffen.
Hier erlebte Johnny das glatte Gegenteil, und es gefiel ihm. Er fragte sich schon, ob er irgendwie falsch gepolt war, denn junge Leute in seinem Alter zogen in der Regel einen anderen Urlaub vor.
Es gefiel ihm, und das lag an Clara Lintock. Wäre sie nicht sympathisch gewesen, hätte er sich bestimmt wieder auf den Rückweg gemacht. So aber konnte er sich vorstellen, dass er seinen Urlaub sogar noch um ein paar Tage verlängerte.
Er saß noch immer unter dem Baum. In seiner Nähe standen drei runde Tische mit den dazugehörigen Stühlen auf dem dichten Rasen. Wenn Gäste bei diesem blitzblanken Sommerwetter kamen, dann würden sie sich nach draußen setzen.
Hinter dem Baum wuchs der Gasthof hoch. Ein alter Bau, sogar etwas schief, aber urgemütlich, und in den vier Gästezimmern gab es sogar Duschen und Toiletten.
Johnny schaute auf die Uhr. Wenn man es genau nahm, war die Mittagszeit bereits erreicht. High noon – zwölf Uhr, aber seine neue Freundin hatte keine genaue Zeit angegeben, und hier unter dem Baum zu warten, war auch nicht schlecht.
Es war eine alte Linde. Manchmal, wenn ein Windstoß sie berührte, dann meldeten sich die Blätter durch ein leises Rauschen, als wollten sie alte Geschichten erzählen.
Die Frau, die auf Johnny zukam, hatte das Haus verlassen, blinzelte gegen die Sonne an, bevor sie lachend näher kam.
»Ist das nicht ein toller Tag?«
»Ja, super.«
»Und es soll in den nächsten Tagen noch so bleiben, wenn man sich auf die Wetterleute verlassen kann.«
»Würde mich nicht stören.«
Ruby Quentin setzte sich neben Johnny. Sie war eine Frau Anfang 40, recht füllig, trug das kurze rötliche Haar immer etwas gegelt, sodass es dunkler aussah. Viel dunkler jedenfalls als ihre zahlreichen Sommersprossen. Ihr und ihrem Mann Wilburt gehörte der Gasthof. Er warf weniger ab, als der Kiosk unten am See, den Quentin zusammen mit einem Freund betrieb. In den Sommermonaten liefen die Geschäfte so gut, dass sie sogar über den Winter kamen, und den Rest des Geldes ließen die Bewohner von Tullich da, denn der Gasthof war zugleich auch ein Treffpunkt.
Die Wirtin hatte Johnny das Du vorgeschlagen, und dabei war es auch geblieben.
»Dir gefällt der Platz, wie?«
»Klar.«
»So macht sogar das Warten auf eine Freundin Spaß.«
Johnny verbarg sein Grinsen nicht. »Lieber wäre es mir natürlich, wenn ich sie bei mir hätte, aber sie wollte zum Grab ihrer Großmutter. Kann man auch verstehen.«
Ruby Quentin nickte. »Ja, das finde ich auch gut. Normal ist es nicht, dass sich die Enkel um die verstorbenen Verwandten kümmern. Ich kann dir da andere Dinge erzählen.«
»Die beiden haben sich gemocht, wie?«
»Das kann man wohl sagen.«
Johnny drehte sich etwas, damit er die Wirtin anschauen konnte.
»Du hast die Frau sicherlich besser gekannt, nehme ich an.«
»Und ob. Alle hier kannten sie. Jessica Lintock war bei allen beliebt. Sie hätte noch nicht zu sterben brauchen.«
»Wie alt war sie denn?«
»Fünfundsiebzig, glaube ich.« Die Frau überlegte einen Moment und bestätigte ihre Angaben. »Das ist heutzutage kein Alter bei den Errungenschaften der Medizin.«
»Stimmt. Sagt meine Mutter auch immer. Und woran ist sie gestorben, wenn ich mal fragen darf?«
Er bekam zunächst keine Antwort, abgesehen von einem Räuspern. Dann sah er, wie die Wirtin die Schultern anhob. »So genau kann man das wohl nicht sagen…«
»Starb sie einen unnatürlichen Tod?«
»Nein, Johnny, das nicht. Offiziell sprach man von einem Herzschlag, aber sie ist nicht krank gewesen. Aber das kann passieren. Da bist du dein ganzes Leben gesund, und plötzlich ist es vorbei. Dann schlägt der Sensenmann einfach zu.«
»Ja«, murmelte Johnny, »das gibt es.«
»Aber ein wenig seltsam war sie schon.«
»Wieso das?«
»Sie… sie … war eine Sammlerin von Heiligenfiguren und auch von Engeln. Ihre Wohnung war voll davon. Ein Hobby, einen Tick, ein Spleen, wie immer man das nennt.«
»Aber nicht gefährlich?«
»Nein, nein, auf keinen Fall. Nur etwas neben sich selbst stehend. Sie hat alle Menschen davon überzeugen wollen, dass es die Engel gibt, und sie erzählte, dass sie sogar immer wieder Begegnungen mit ihnen gehabt hatte.«
»Ach. Sagen Sie nur.«
»Ja, Johnny.«
»Wie sahen die denn aus?«
Ruby Quentin musste lachen. »Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Die meisten Menschen haben es gehört, wenn sie darüber sprach oder sich einfach amüsiert gezeigt. So
Weitere Kostenlose Bücher