1375 - Wächterin der Toten
Einsamkeit?«
»Ja, Mum.«
»Komisch.«
»Wieso? Ich habe doch in London Stress genug gehabt…«
Sheila, die Mutter, lachte. »Himmel, das hört sich vielleicht an. Du kommst mir fast vor wie ein Mensch, der unter einem Burn-Out-Syndrom leidet.«
»Vielleicht ist das bei mir sogar der Fall.«
»Na, na, na…«, so leicht war Sheila nicht zu überzeugen. »Ich denke eher an ein inneres Brennen, mein Junge.«
»Wieso das denn?«
»Gibt es da nicht eine gewisse Clara Lintock?«
Johnny bewegte seine Augenbrauen nach oben und sehr schnell wieder nach unten. Diese letzte Frage war typisch für seine Mutter gewesen. Sie besaß auch die Gabe, immer wieder ins Schwarze zu treffen, und das ärgerte ihn.
»Ja, die gibt es.«
»Wusste ich doch.«
»Wieso? Was wusstest du?«
»Sie lässt dich die schottische Einsamkeit vergessen, nehme ich mal an.«
»Clara ist ein Kumpel. Sehr nett. Unsere Interessen sind ziemlich gleich, und ob du es glaubst oder nicht, wenn sie bei mir ist, sehe ich die Gegend mit ganz anderen Augen an. Nach der Großstadt tut es wirklich gut, hier oben zu sein.«
»Toll. Ohne Partys und…«
»Klar.«
»Das hört sich schon direkt spießig an.«
Johnny lachte. »Wenn ich das werden sollte, komme ich so schnell wie möglich zurück. Mit dem Bus und dann mit der Bahn. Das ist auch ein Abenteuer.«
»Okay, mein Junge. Wichtig ist, dass es dir gut geht. Und grüße deine neue Flamme von mir.«
»Flamme?« Johnny regte sich leicht künstlich auf. »Woran du immer sofort denkst.«
»Dein Vater war ja auch mal jünger.«
»Ich weiß. Grüß ihn von mir.«
»Mache ich. Er hockt mit John Sinclair zusammen in irgendeinem Lokal, das einen Biergarten hat. Die werden ja immer mehr in Mode kommen. Und ich fahre gleich auch hin.«
»Viel Spaß. Dann bestell beiden einen schönen Gruß.«
»Mach ich glatt. Wir telefonieren wieder.«
»Klar.«
Johnny ließ das Handy verschwinden. Er hatte seine Mutter nicht belogen. Es gefiel ihm tatsächlich hier. Mal weg aus London, wo immer so viel passierte, was gerade seine Familie anging und natürlich seinen Patenonkel John Sinclair.
Er war als Geisterjäger bekannt, wobei sich das nicht nur auf seine Person bezog, denn in den Jahren waren auch immer wieder die Conollys in bestimmte Fälle mit hineingezogen worden. Es schien ihr Schicksal zu sein, denn der Vater seiner Mutter war ebenfalls durch einen Dämon ums Leben gekommen.
Hinzu kam, dass Bill Conolly als Journalist arbeitete und immer den Fällen nachging, die nicht so einfach zu lösen waren. Er hatte ein Gespür für unheimliche Vorgänge und schaffte es ständig, in Fettnäpfchen zu treten, sehr zum Leidwesen seiner Frau.
Auch ein Johnny Conolly war davon nicht verschont geblieben, aber diese Zeiten lagen schon etwas zurück, als noch Nadine, die Wölfin mit den menschlichen Augen bei ihnen gewohnt und dabei auf ihn aufgepasst hatte.
Jetzt war aus der Wölfin wieder die Frau Nadine Berger geworden, die auf der geheimnisvollen Insel Avalon ihre neue Heimat gefunden hatte. Freunde und Familie der Conollys führten ein spannendes, aber auch gefährliches Leben, und Johnny ging davon aus, dass auch er in der Zukunft davon nicht verschont bleiben würde.
Daran wollte er jetzt nicht denken. Für ihn hieß es zunächst, Urlaub zu machen. Bis zum Ende der Woche wollte er noch bleiben.
Möglicherweise lief da was mit Clara Lintock, die ihm schon etwas mehr als nur sympathisch war, was übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte, das hatte er schon längst erkannt.
Clara hatte ihm gesagt, dass sie gegen Mittag zurück sein würde, und Johnny hatte ihr versprochen, auf sie zu warten. Für den Nachmittag hatten die beiden sich vorgenommen, in einem nahen See zu baden, dessen Wasser nicht so kalt war wie das der größeren Gewässer. Da brauchte er nur an Loch Tay zu denken, dessen Südspitze nur ein paar Kilometer entfernt lag. Dort ballten sich die Touristen zusammen, denn es war ein Campingplatz angelegt worden, der zu dieser Jahreszeit natürlich stark frequentiert war.
In Tullich merkte man nichts davon. An diesem kleinen Ort liefen die Touristenströme vorbei. Nur hin und wieder hielten Menschen an, um ihre Vorräte zu ergänzen oder in den Gasthäusern einen Drink zu nehmen. Meistens aßen sie auch eine Kleinigkeit. Deshalb hatten die Besitzer nichts gegen die Touristen einzuwenden, die man auf keinen Fall mit denen vergleichen konnte, die sich auf den Balearen herumtrieben und sich von einem Rausch in
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