1384 - Die Blut-Ruine
einzig und allein seine Sache war, was er hier tat. Er suchte Serena, die Vampirin, und dabei wollte sie ihn nicht stören.
Justine wartete ab, bis der Geisterjäger im Turm verschwunden war. Er hatte sich nicht mal nach ihr umgedreht, geschweige denn nach ihr gerufen. Jetzt befand sie sich allein in der Umgebung, was ihr nichts ausmachte.
Sie spürte das Prickeln in ihren Händen. Sie sah den Mond. Sie merkte ihre innere und auch ihr äußere Kraft, lief einige Schritte, stieß sich dann ab und erreichte mit einem einzigen Sprung den am höchst gelegenen Rand eines Mauerteils.
Das hätte ein Mensch nie geschafft.
Für einen Moment balancierte sie aus, und ihr Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, wobei sie sich durch ihr sattes Lachen einfach selbst loben musste. Was sie geschafft hatte, das brachte kein Mensch fertig. Mit einem Satz eine so hohe Mauerkrone zu erreichen, das war für einen Sterblichen nicht möglich. Sie hatte mit diesem Sprung bewiesen, wie enorm kräftig und stark sie war.
Auf der Mauerkrone stand Justine wie ein Wachtposten. Das helle Haar umschloss ihren Kopf und war deutlich zu sehen. Es machte ihr nichts aus. Sie war eine starke und selbstsichere Unperson und fühlte sich dort wohl, wo andere Menschen mit ihren Ängsten und Beklemmungen zu kämpfen hatten.
Bei ihr war es nicht der Fall. Aber sie war auch auf der Hut, und man konnte zudem bei ihr von einer gewissen Sensibilität sprechen.
Von bestimmten Orten fühlte sie sich angezogen. Das galt auch für diesen Flecken außerhalb der Stadt. Hier war etwas passiert. Es lag schon sehr lange zurück, aber der alte Geist der verbrannten Hexen hatte überlebt, und der vermischte sich nun mit der Aura einer Blutsaugerin.
Sie war da. Sie hielt sich im Turm auf. Das witterte Justine Cavallo wie ein Aasgeier den toten Tierkörper.
Sie bemerkte aber nicht nur ihre Artgenossin. Es gab auch noch etwas anderes, dass sie witterte, was sie aber nicht störte, denn es war ein Geruch, den sie liebte.
Blut – frisches Blut!
Mit John Sinclair hing das nicht zusammen. Dessen Blut wollte sie auch nicht trinken. Noch jemand anderer befand sich in der Nähe, ein Mensch, in dessen Adern ebenfalls der heiße, süße Lebenssaft floss.
Ken Kilmer…
Einmal hatte er Glück gehabt, großes Glück sogar. Wäre er bei seiner Flucht nicht so verletzt gewesen, dann hätte er längst das Weite suchen können. So aber würde er kaum in der Lage sein, eine längere Strecke zu fahren, auch wenn es nur wenige Kilometer bis London waren. Das würde er einfach nicht packen.
Je länger sie über ihn nachdachte, um so deutlicher formte sich der Plan in ihrem Kopf. Sinclair befand sich nicht in der Nähe, und sie verspürte ungemein großen Durst. Nur das Blut der Menschen gab ihr die Kraft, überleben zu können, und in Vollmondnächten wie dieser war sie besonders scharf auf einen Biss.
Was hier ablief, interessierte sie wenig. Sie war nicht involviert oder höchstens nur am Rande. Sinclair sollte sich damit herumschlagen. Der Mann im Auto war für sie viel wichtiger.
Sie interessierte auch Sinclairs Verhalten nicht. Schon mehrmals hatte sie sich durchgesetzt und das Blut eines Menschen getrunken, wobei er sie nicht daran hatte hindern können, obwohl er in ihrer Nähe gestanden hatte. Da brauchte sie nur an den französischen Polizisten zu denken, den sie bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hatte. Das war ein Genuss gewesen, den sie nie in ihrem Leben vergessen würde.
So etwas wollte sie durchaus öfter wiederholen.
Ein schneller Rundblick. Die Aussicht war gut, aber die interessierte Justine Cavallo nicht besonders, dafür aber der parkende Wagen, den sie von hier ebenfalls sehen konnte.
Ein kaltes Lächeln huschte um ihre Lippen. Jetzt war sie wieder die blonde Bestie, die nur ein Ziel kannte.
Blut! Das Blut eines Menschen!
Warm und süß und kraftspendend!
Mit einem Satz sprang sie von der Mauerkrone nach unten. Sie kam weich auf, federte noch etwas nach, drehte sich und lief aus der Bewegung hervor los.
Nur etwas irritierte Justine. Das auch nur deshalb, weil sie nicht wusste, ob sie sich getäuscht hatte oder es der Wahrheit entsprach.
Sie hatte eine Bewegung gesehen, einen Schatten, der ebenfalls in eine bestimmte Richtung davonhuschte.
Wenig später machte sie sich keine Gedanken mehr darüber, denn sie gehörte zu denjenigen, die auf ihre Stärke setzten. Mit wenigen Ausnahmen war sie bisher mit jedem Gegner und jeder Gefahr fertig
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