1390 - Blut-Banditen
Ahnung.
Die Gestalt kam näher. Da sie eine sehr dunkle Kleidung trug, hob sie sich nur schwer vom Hintergrund ab. Erst als der erste Kerzenschein über sie hinwegfloss, blieb sie stehen.
Ein bleiches Gesicht, eine hohe Stirn, auf der dieser Buchstabe glühte wie von einem Brandzeichen hinterlassen. Die leicht gekrümmte Nase, die schmalen Lippen – das alles war jetzt zu sehen, aber Sofia konnte sich nicht erinnern, diesem Mann schon mal begegnet zu sein. Deshalb wunderte sie sich darüber, wie sicher er sich bewegte, als wäre er hier zu Hause und nicht auf Besuch.
»Schön, dass ich euch hier finde.«
Er hatte das Schweigen gebrochen. Seine Stimme klang klar und trotzdem rau.
Die Zwillinge sagten kein Wort. Was sie hier erlebten, war einzig und allein eine Sache für die Chefin, und Sofia Milos wusste das, und deshalb sagte sie mit scharfer Stimme:
»Wer bist du?«
Der Fremde kicherte vor seiner Antwort. »Ich bin gekommen, um euch zu holen.«
»Wieso?«
»Ihr gehört ab jetzt zu mir!«
Sofia wurde sauer, denn der letzte Satz des Eindringlings gefiel ihr überhaupt nicht. »Was soll dieser Mist? Bist du von allen guten Geistern verlassen, verdammt?«
»Ich sagte: Ab jetzt gehört ihr zu mir. Ihr werdet meine Blut-Banditen, und ihr werdet von der nächsten Nacht an alles tun, was ich sage. Es wird keinen Ausweg mehr für euch geben. Wir ziehen gemeinsam in den Kampf und werden einige das Fürchten lehren.«
Sofia verschlug es die Sprache. Ein solches Auftreten war sie nicht gewohnt, und den beiden Mänern erging es ebenso.
Sie brauchten keinen Chef. Sie waren sich selbst Chef genug.
Außerdem hatten sie eine Anführerin, auf die sie sich verlassen konnten, und das sollte auch in Zukunft so bleiben.
Jossip fragte leise: »Soll ich ihm den Hals umdrehen?«
»Nein, nein, das erledige ich dann schon, wenn es soweit ist.«
»Vorsicht«, murmelte Sandro. »Ihr müsst vorsichtig sein. Ich habe ihn als Vogel gesehen. Er kann fliegen und…«
»Halt dein Maul!«, fuhr Sofia ihn an.
»Aber er war ein Vogel!«
Sofia merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Sie konnte auch nicht mehr länger sitzen bleiben und schob sich langsam in die Höhe. Ihr Gesicht hatte alle Glätte verloren. Es war zu einer Grimasse der Wut entstellt.
Der Besucher blieb ganz locker. Er wies auf Sandro und fragte:
»Warum glaubt ihr ihm nicht?«
»Weil es Unsinn ist, was er da redet!«, fauchte Sofia.
»Nein, nichts ist Unsinn. Aber ich kann euch beruhigen, ich bin kein Vogel gewesen«, sagte der Besucher geheimnisvoll und lächelte.
Die Unsicherheit bei Sofia nahm zu. Sie ärgerte sich darüber, dass sie so passiv blieb, doch sie gab ihrer eigenen inneren Stimme nach, die sie warnte. Dieser Kerl war nicht so harmlos, wie es den Anschein hatte. Er gehörte zu denjenigen, die genau wussten, was sie taten, und wer sich in die Höhle des Löwen begab, war nicht harmlos.
Eine Waffe an ihm war nicht zu sehen. Die schwarze Kleidung lag glatt an seinem Körper. Das bleiche Gesicht stand in einem krassen Gegensatz dazu, und Sofia fragte sich, wie jemand dermaßen sicher auftreten konnte, ohne bewaffnet zu sein, wenn er offensichtlich Gangstern gegenübertrat.
Er hatte es bewusst auf eine Provokation angelegt, aber es war noch nicht zur Explosion gekommen. Die Gefühle wurden unter Kontrolle gehalten. Sie spürte die Blicke der Zwillinge auf sich. Es war klar, dass sie von ihr eine Reaktion erwarteten, und sie überlegte, wie sie vorgehen sollte.
»Wer bist du?«, fragte sie den Fremden mit messerscharfer Stimme. »Und wie heißt du?«
»Will Mallmann heiße ich.«
»Den Namen habe ich nie gehört! Deutscher?«
»Ja, das war ich, aber das spielt für mich keine Rolle mehr. Ich bin einfach ich.«
Mit dieser Antwort konnte Sofia nichts anfangen. Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie es gar nicht wollte, denn damit präsentierte sie ihre Ratlosigkeit.
»Er will uns übernehmen«, sagte Jossip und konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Das will er tatsächlich. Was sagst du dazu?«
»Er ist verrückt«, sagte Sofia.
»Nein, er ist gefährlich.«
Den letzten Satz hatte Sandro gegeben. Er war derjenige aus dem Trio, der am wenigsten Grips hatte. Er war nur eine Art Hilfskraft.
Er tat, was man ihm sagte, und dachte nicht weiter darüber nach. Es war schon immer so gewesen. Jossip hatte stets auf seinen Bruder Acht geben müssen, damit ihm nichts passierte, aber Sandro war auch sensibler als er. Er besaß ein Gespür für
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