1396 - Das Blut der Sinclairs
wieder. Der Blick klärte sich. Die Schmerzen an meiner Stirn ignorierte ich. Aber ich musste nach vorn schauen und sehen, was dort ablief.
Ich sah meine Halbschwester. Ihre Haltung hatte sich verändert.
Die Lanze hielt sie mit beiden Händen fest, sie schien mit ihr verwachsen zu sein, aber sie stand nicht mehr, sondern lag jetzt am Boden, halb aufgerichtet, als würde sie sich an der Lanze festhalten und sie wie einen lebensrettenden Anker benutzen.
Lucy und der Unheimliche starrten sich an. In den Augen der seltsamen Mönchsgestalt war plötzlich ein rotes Glühen, das mitten aus der Hölle zu stammen schien. War es eine höllische Kreatur?
Das Feuer jedenfalls wies darauf hin, und es bewegte sich nicht nur in den Augen, sondern erfasste auch den Körper meiner Halbschwester.
Ich wollte sie retten. Dabei dachte ich nicht mal an das verwandtschaftliche Verhältnis, sondern daran, dass sie einfach nur ein Mensch war. Als Mensch hatte ich die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, einen anderen Menschen vor seinem Tod zu bewahren.
Doch hier ging es nicht.
Ich war und blieb Zuschauer.
Und so musste ich hilflos zusehen, wie meine Halbschwester verging. Sie verbrannte nicht direkt. Es war irgendwie noch schlimmer, und sie ließ auch die Lanze nicht los, die das Feuer noch mehr nährte und dafür sorgte, dass die Haut auf den Knochen zerschmolz und zu einer teigähnlichen Masse wurde, die allmählich zu Boden tropfte und dort ihre Flecken hinterließ.
Lucys Gestalt sackte in sich zusammen, und ich konnte zur zuschauen, bis sich die Wand wieder schloss, sodass ich das Ende nicht mehr miterlebte.
Es war vorbei!
Ich starrte gegen die Wand. Ich war erschöpft. An meinem Körper schien es keine Stelle mehr zu geben, die nicht schmerzte, aber auch innerlich war ich ziemlich von der Rolle. Was in den letzten Stunden geschehen war, überstieg die Kräfte eines normalen Menschen, und auch ich war nur ein Menschen, der mit der Nachricht, eine Halbschwester gehabt zu haben, erst mal fertig werden musste.
Hinzu kam noch die Vergangenheit meines Vaters. Möglicherweise würde ich sie als sein Sohn aufarbeiten müssen, aber darüber wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen.
Im Moment ging es mir um etwas anderes. Was genau war die Lanze? War sie wirklich die geheimnisvolle Waffe, von der in den Legenden berichtet wurde?
Keine Ahnung. Irgendwann, in ferner Zukunft vielleicht, würde ich eine Antwort erhalten. Jetzt danach auf die Suche zu gehen, dazu hatte ich keinen Nerv mehr…
***
Um in die Kirche zu gelangen, musste ich die Treppe wieder hoch.
Es war eine Qual, und ich fühlte mich wie ein alter Mann. Seltsamerweise kam mir in den Sinn, dass wir in drei Tagen Weihnachten hatten und ich noch keine Geschenke für meine Freunde hatte. Das machte nichts. Man musste mal ohne auskommen.
Am Ende der Treppe tauchte mein Kopf zuerst aus der Öffnung unter dem Altar. Die Fackeln streuten weiterhin ihr Licht in die kleine Kirche, in der es so ruhig geworden war.
Aber ich war nicht mehr allein, denn ich hörte das Geräusch von Schritten, die auf mich zukamen.
Es war Jane Collins, die durch die Kirche ging und sich ebenso schlurfend bewegte wie ich mich. Auch sie hatte einiges hinter sich, das sah ich ihr an.
Ich ließ auch die letzte Stufe hinter mir. Wir gingen uns entgegen und fielen uns in die Arme.
So standen wir eine ziemlich lange Zeit neben dem Altar und sprachen kein Wort.
Irgendwann lösten wir uns voneinander.
»Haben wir es hinter uns?«, fragte Jane.
»Ich denke schon.«
»Und?«
»Fragst du nach Lucy?«
»Ja.«
»Es gibt sie nicht mehr.«
»Was? Dann haben wir zwei Tote.« Jane erzählte mir, welch ein Glück sie gehabt hatte. Sie erzählte mir auch, dass Abel sich aus dem Staub gemacht hatte, ohne dass es bemerkt worden war, aber den Hammer der Überraschung hielt ich für sie parat.
Jane trat zurück, schaute mich an und schüttelte den Kopf. »Bist du noch ganz bei Trost, John? Was erzähltest du mir da von einer… ähm … Schwester?«
»Halbschwester.«
»Meinetwegen. Aber das ist nicht möglich. Dein alter Herr hat doch nicht…« Sie verstummte und stöhnte auf. »Oder hat er doch?«
»Ich habe es nicht für eine Lüge gehalten, Jane. Er muss in früheren Jahren sehr… aktiv gewesen sein. Wie auch immer.«
»Dann hat er sozusagen ein zweites und geheimes Leben geführt.«
»Das schließe ich nicht mehr aus.«
»Und was willst du tun?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich möchte keine
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