1396 - Das Blut der Sinclairs
diese Kirche, die den Namen eigentlich nicht verdiente, errichtet hatte, war mir ebenfalls ein Rätsel, und ich glaubte auch nicht daran, dass Lucy Newman eine Antwort wusste. Letztendlich spielte es auch keine Rolle.
Es gefiel mir nicht, dass ich die Stufen im Dunkeln hinabschreiten musste. Damit ging ich auch der immer schlechter werdenden Luft entgegen. Sie legte sich schwer auf meine Lungen.
Staub, Spinnweben und ein modriger Geruch, der bald meinen Mund und auch die Nase ausfüllte.
Dann erreichte ich das Ende der Treppe. Ich ließ die letzte Stufe zurück und blieb schließlich stehen, nachdem ich noch zwei Schritte in die Dunkelheit gegangen war.
Da es bei dieser Finsternis egal war, wohin ich schaute, drehte ich mich um.
Meine Halbschwester befand sich noch auf der zweitletzten Stufe.
Von oben her sickerte das schwache Fackellicht aus dem Innern der Kirche in diese unterirdische Welt und sorgte mit seinem sehr schwachen Schein dafür, dass ich Lucy als Umriss sah.
»Gibt es hier kein Licht?«, fragte ich sie.
»Das weiß ich nicht.« Sie nahm auch die letzte Stufe. »Du hast doch eine Lampe, wie ich weiß.«
»Ich frage mich nur, ob eine ausreicht?«
»Ich habe auch eine.«
»Sehr gut.« Nach dieser Antwort holte ich meine kleine Leuchte hervor und schaltete sie ein. Und siehe da, auch Lucy war nicht ohne Lichtquelle in den Keller gekommen, der für mich eben ein Keller war und keine Krypta, in der irgendwelche Särge standen.
Im Licht der beiden Strahlen schauten wir uns um. Wir befanden uns in einem Gang, der eine halbrunde Decke aufwies und dessen Seitenwände gemauert waren. Da lagen die alten Steine aufeinander, als sollten sie bis zum Ende der Welt Bestand haben.
Der Gang war recht lang, wie ich feststellte, als ich nach vorne leuchtete.
»Und jetzt?«, fragte ich.
Lucy blickte an mir vorbei und nickte. »Die Lanze muss hier irgendwo sein. Ich weiß genau, dass es so ist. Hier irgendwo hat man sie versteckt.«
»Wer soll das getan haben?«
»Ich weiß es nicht. Es ist alles im Dunkel der Geschichte begraben. Aber unser Vater war damals auf der richtigen Fährte. Er hat sie nur nicht weiterverfolgt und geschwiegen.«
»Warum wohl?«
Fast wütend schaute sie mich an. »Ich denke, dass wir beide das herausfinden, und dann sind wir die Größten, die Sieger!«
Diesen Optimismus konnte ich beim besten Willen nicht teilen.
Ich war trotz meiner fantastischen Erlebnisse noch immer ein Skeptiker.
»Hast du dir denn nie darüber Gedanken gemacht, wieso die Lanze gerade an diesen Ort sein sollte?«, fragte ich Lucy.
»Doch, das habe ich.«
»Und?«
»Es gibt Hinweise, John.«
»Sehr schön. Wo denn?«
»In Büchern, alten Schriften.«
»Kannst du mich aufklären?«
Sie nickte. »Ja, ja, warum nicht? Wir habe ja noch Zeit, und es ist kurz gesagt.«
»Ich bin gespannt.«
Lucy hielt sich noch zurück. »Obwohl du einiges wissen müsstest, gerade du, ein Sinclair.«
»Entschuldige«, erklärte ich spöttisch, »aber vielleicht war ich gerade mit anderen Dingen beschäftigt. Das kann ja sein, oder?«
»Schon gut.« Lucy schaute nach vorn und atmete durch die Nase ein. »Wir müssen bis in das Jahr 1165 zurückgehen. Da gab es den Hofdichter Chrétien de Troyes. Er schrieb Lieder und Epen über tollkühne und mutige Männer. In seinem letzten Werk erzählte er von einer Gestalt, die Geschichte machte. Ernannte seinen Helden Perceval, aus dem später der Dichter Wolfram von Eschenbach Parcival machte. Perceval – der Ritter, der Recke, der Abenteuer suchte, um zu Ehre zu gelangen, wie es damals der Fall war und sein musste. Auf seinen Reisen erlebte Perceval viel und landete schließlich auf einer geheimnisvollen Burg. Dort lebte ein König, der unter einem starken Gebrechen litt, nachdem sich der Ritter Perceval aber nicht erkundigte. Stattdessen erhielt er ein magisches Schwert geschenkt und sah einen Knappen, der eine Lanze durch den Saal trug, von deren Spitze Blut tropfte. Und wenig später sah er eine Jungfrau, die ein Gefäß aus purem Gold in den Händen hielt, bedeckt mit kostbaren Edelsteinen. Es war wie ein Wunder, und der Held fühlte sich so in dieser Wunderwelt gefangen, dass es ihm die Sprache verschlug und er sich nicht traute, irgendwelche Fragen zu stellen. Er wurde beköstigt, und das Essen schien auf eine unerklärliche Art und Weise dem Kelch oder dem Gral zu entsteigen. Er verbrachte die Nacht auf der Burg, die er am nächsten Morgen verließ. Später wurde ihm dann
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