14 - Roman
jahreszeitlich passender malvenfarbener Bluse. Als Schutz gegen die Sonne hatte sie einen ausladenden schwarzen Regenschirm über sich aufgespannt, während man im Gleichschritt unterm neuen Käppi, das an den Schläfen verdammt eng saß, und unterm vorschriftsmäßig geschnürten Tornister schwitzte, der an diesem ersten Tag immerhin noch nicht so am Schlüsselbein zerrte.
Wie er es erwartet hatte, sah Anthime zunächst, wie Blanche Charles angesichts seiner martialischen Haltung mit einem stolzen Lächeln bedachte, dann, als er selbst auf ihrer Höhe anlangte, fand er sich durchaus nicht ohne Überraschung von ihr mit einer anderen Variante des Lächelns beschenkt, ernster und sogar, so wollte ihm scheinen, ein wenig gerührter, intensiver, nachdrücklicher, unmöglich zu sagen, wie nun genau. Wie Charles, den er ohnehin nur von hinten sah, auf ihr Lächeln reagierte, bemühte Anthime sich nicht einmal herauszufinden, doch er selbst, Anthime, erwiderte es nur mit einem Blick, der so kurz wie möglich war und so lang wie möglich, wobei er sich zwang, ihn mit möglichst wenig Ausdruck zu versehen, aber zugleich möglichst suggestiv zu gestalten – eine weitere, diesmal doppelt widersprüchliche Übung, keine kleine Angelegenheit, zumal wenn man im Gleichschritt bleiben muss. Danach, als sie an Blanche vorüber waren, schaute Anthime die anderen Leute lieber gar nicht mehr an.
Am Bahnhof früh am nächsten Morgen war Blanche wieder da, am Gleis inmitten der fähnchenschwenkenden Menge, Jungs schrieben mit Kreide Nach Berlin auf die Seiten der Lok, vier, fünf Blechbläser buchstabierten sich nach bestem Vermögen durch die Nationalhymne. Hüte, Schals, Blumensträuße und Taschentücher wurden in alle Richtungen gewedelt, Körbe mit Wegzehrung durch die Fenster gereicht, man drückte kleine Kinder und Greise, Paare umarmten einander, Tränen platschten auf die Trittbretter – wie man es heute in Paris auf dem großen Fresko von Albert Herter im Elsass-Saal der Gare de l’Est sehen kann. Aber insgesamt lächelte alle Welt vertrauensvoll, denn all das würde ganz offensichtlich nur sehr kurz dauern, man würde schnell wieder zu Hause sein – und von fern, über Charles’ Schulter hinweg, der sie in den Armen hielt, sah Anthime wieder, wie Blanche ihn noch einmal mit demselben Blick bedachte. Dann hieß es einsteigen, und es war gerade eine Woche verstrichen seit seiner kleinen Fahrradtour, da traf Anthime, der Samstagmorgen sechs Uhr früh in Nantes aufgebrochen war, am späten Montagnachmittag in den Ardennen ein.
3
S onntag früh ist Blanche in ihrem Schlafzimmer aufgewacht, im ersten Stock einer imposanten Villa, wie Notare oder Abgeordnete sie besitzen, hochgestellte Amtspersonen oder Fabrikbesitzer: Familie Borne leitet die Borne-Sèze-Werke, und Blanche ist das einzige Kind.
In diesem eigentlich so ruhigen, wohlaufgeräumten Zimmer herrscht eine seltsam unharmonische Note. Auf der ein wenig schief geklebten Blümchentapete hängen gerahmte Genreszenen – Frachtkähne auf der Loire, Fischerleben auf Noirmoutier –, und die Möbel zeugen von einem großen Willen zur waldwirtschaftlichen Vielfalt, wie in einer Baumschule: verspiegelter Wäscheschrank in Nussbaum, eichener Schreibtisch, Mahagonikommode mit Obstbaumfurnier, das Bett ist aus Kirschholz, der Schrank aus Pitchpine. Eine merkwürdige Atmosphäre also, von der man nicht weiß, ob sie an den – in so einem an und für sich ordentlich tapezierten Bürgerhaushalt unerwarteten – Spalten zwischen den Bahnen der altmodischen Tapeten liegt, auf denen das Blumendekor ebenfalls schon zu welken scheint, oder an dieser überraschenden Vielfalt an Möbelhölzern: Erst fragt man sich, wie derart verschiedene Gattungen miteinander harmonieren sollen. Und dann begreift man sehr schnell, sie harmonieren überhaupt nicht miteinander, sie können einander nicht ausstehen – daher stammt ganz sicher diese Note, daran muss es liegen.
Geduldig warten die Möbel darauf, dass Blanche aufsteht, um ihre Rolle zu spielen. Auf dem Nachttisch – Buchenholz – liegen unter einer Lampe einige Bücher, darunter Marc Elders Das Volk des Meeres , in dem Blanche manchmal blättert, weniger weil der Autor rühmlicherweise im Vorjahr den Prix Goncourt erhalten hat, gegen Marcel Proust, sondern weil er unter seinem wahren Namen Marcel Tendron ein Freund des Hauses ist und dieser Roman sie an die sonntäglichen Familienausflüge in die Umgebung erinnert, wenn sie die
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