14 - Roman
das hat man schon gesehen).
Und Paris, schloss Monteil, wann fahren Sie mit Blanche nach Paris? Und in der Woche darauf kamen sie an der Gare Montparnasse an, nachdem Anthime im Zug gründlich die Zeitungen studiert hatte. Seit seiner Rückkehr von der Front hatte er sich für die Dinge nicht mehr interessieren wollen, jedenfalls hatte er nicht die geringste Aufmerksamkeit für Presseerzeugnisse an den Tag gelegt – obwohl er manchmal heimlich darin blätterte –, doch hier, in ihrem Abteil, lieh er sich die Tageszeitungen von Blanche aus und vertiefte sich in die Aktualitäten der Zeit: zuvorderst den Krieg. In dessen viertem Jahr man sich nunmehr befand, nach der besonders blutigen Materialschlacht am Chemin des Dames, zugleich las er von der Lage in Russland, die den Menschen neue Ideen eingab, und von ersten Meutereien. Von alldem las Anthime mit der größten Aufmerksamkeit.
Blanche hatte für sie beide in Paris in einem von Cousins der Familie geführten Hotel am anderen Ende der Stadt Zimmer gebucht, und so nahmen sie in Montparnasse ein Taxi. Als dieser Wagen an der Gare de l’Est vorbeifuhr, sahen sie einander begegnende Gruppen von Fronturlaubern, die aus der Schlacht kamen oder dorthin zurückfuhren. Diese Männer wirkten erregt, vielleicht betrunken, aber heftig aufgebracht, wütend, sie stimmten Gesänge an, die nicht recht zu verstehen waren. Anthime bat den Fahrer, kurz zu halten, er stieg aus und betrat die große Bahnhofshalle, wo er diese Gruppen einen Moment lang beobachtete. Manche von ihnen sangen schief aufrührerische Verse, unter denen Anthime die Internationale erkannte – die martialisch mit einer aufsteigenden Quarte beginnt wie so manche Hymnen, kriegerische, patriotische oder Partisanengesänge. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, sein Körper unbewegt, doch reckte er als Ausdruck der Solidarität die rechte Faust, was allerdings niemand sah.
Als sie im Hotel angelangt waren, zeigten die Cousins ihnen ihre Zimmer, die einander gegenüberlagen: Sie stellten das Gepäck ab, kämmten sich rasch und wuschen sich die Hände, dann drehten sie draußen vorm Abendessen noch eine Runde. Später zogen sie sich zurück, alles ließ darauf schließen, dass jeder auf seiner Seite schlafen würde, doch dann erwachte Anthime mitten in der Nacht. Er stand auf, ging über den Flur, öffnete die Tür gegenüber und trat im Dunkeln auf das Bett von Blanche zu, die auch nicht schlief. Er legte sich dicht neben sie, nahm sie in seinen Arm, dann penetrierte und befruchtete er sie. Und im Herbst danach, genau zur Zeit der Schlacht von Mons, die die letzte sein sollte, wurde ein Junge geboren, und man gab ihm den Vornamen Charles.
Über den Autor/Übersetzer
Jean Echenoz wurde 1947 in Orange (Provence) geboren, er lebt in Paris. Für seinen Roman
Ich gehe jetzt
wurde er 1999 mit dem »Prix Goncourt« ausgezeichnet. Auf Deutsch erschien zuletzt der Roman
Blitze
(2012).
Hinrich Schmidt-Henkel, 1959 geboren, arbeitet seit 1988 als Übersetzer für norwegische, französische und italienische Literatur. 2000 erhielt er den Jane-Scatcherd-Preis der Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt- Stiftung und 2004 den Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds.
Weitere Kostenlose Bücher