1421 - Totenklage
etwas verändert. Der ernste, suchende Ausdruck war verschwunden. Er wirkte jetzt verklärt. In ihren Augen leuchtete es auf, denn jetzt würde sie ihre wahre Bestimmung erleben. Da konnten die Menschen sagen, was sie wollten. Man konnte sie bedauern, weil sie nichts hörte, aber das, was sie hörte, war viel wichtiger. Diese Stimmen gab es längst nicht mehr. Sie waren verschwunden, von der Erde abgetreten, aber sie hatten sich nicht verflüchtigt, sonst hätte Elena sie nicht gehört.
Aus der Tiefe drangen sie herauf und erreichten raunend die Ohren der tauben jungen Frau. Es blieb nicht nur beim Raunen. Es wurde zu einem Flüstern, aber es hörte sich nie fröhlich oder freundlich an, sondern sehr klagend und jammervoll.
Es gab die Stimmen, und es gab die Menschen. Letztere aber waren nicht zu sehen. Sie lagen in der Tiefe des Moors vergraben. Vielleicht schon seit Jahren oder Jahrhunderten, so genau wusste Elena das nicht. Sie wusste nur, dass sie im Laufe der Zeit mehr geworden waren. Es waren neue Tote hinzugekommen, und das genau störte sie beträchtlich. Das war das eigentliche Geheimnis. Jemand musste die Menschen in das Moor geworfen haben. Lebendig, tot, wie auch immer, wahrscheinlich tot, denn sie lagen in der Tiefe vergraben, obwohl ihre Stimmen zu hören waren.
Nur für Elena Davies. Nur für die Taube. Niemand sonst hörte ihr Klagen. Gepeinigte Seelen, die keine Ruhe fanden und in der Tiefe verborgen lagen, wo sie darauf warteten, endlich an die Tür zum richtigen Jenseits klopfen zu können.
Elena schloss die Augen, um sich noch besser konzentrieren zu können. Ihr Gesicht blieb dabei völlig ausdruckslos. Sie wartete darauf, dass die Stimmen wieder leiser wurden, aber das trat so schnell nicht ein. Stattdessen klagten sie weiter. Sie schrien manchmal auf, dann wieder hörten sie sich so klagend an, dass in Elena etwas wie Mitleid hochstieg. Sie hätte den Klagenden gern geholfen, aber sie konnte nicht hinein in das gefährliche Moor, sonst hätte sie sich zu den dort liegenden Leichen legen können, um mit ihnen zu klagen.
So aber blieb sie stehen und wartete auf weitere Botschaften. Sie ging davon aus, dass die Stimmen ihr irgendwann etwas mitteilten.
Vielleicht darüber, wie die Menschen zu Tode gekommen waren, denn Elena glaubte nicht daran, dass all die Jammernden freiwillig ins Moor gegangen waren.
Die Stimmen klangen nicht gleich. Manche höher, einige leiser, andere wieder schriller und auch tiefer. Eine Kakophonie dieser ungewöhnlichen Botschaften aus einem Reich, in dem einzig und allein der Tod regierte. Ein fernes Reich, wonach sich bestimmt kein Mensch sehnte, das es aber gab.
Zuerst hatte sich Elena noch ein wenig erschreckt. Nun hatte sie sich an die Stimmen gewöhnt. Es war wie immer. Sie freute sich darauf, ihnen zu lauschen. Gerade weil sie taub war, machte es ihr einen besonderen Spaß, und es dauerte nicht lange, da umspielte ein Lächeln ihre Lippen. Sie freute sich wahnsinnig darüber, dass man gemerkt hatte, wer hier als Besucherin erschienen war. Die Stimmen begrüßten sie. Sie freuten sich darüber, dass man sie nicht vergessen hatte.
Aber wer ihnen genauer zuhörte, der erkannte bald, wie unglücklich sie waren. Geister, die keine Ruhe fanden. Menschen, die als solche grausam gestorben waren und deren Körper nun in den Tiefen des Moors lagen, wo sie wahrscheinlich gut erhalten waren und in den nächsten Jahren konserviert wurden, bis das Moor irgendwann mal austrocknete und man die Leichen fand.
Noch aber konnte Elena den Stimmen lauschen. Noch immer darauf hoffend, dass sie ihr eine Botschaft vermittelten, was bisher leider nicht eingetreten war.
Aber sie gab nicht auf, denn wer bekam schon die Chance, sich mit Toten zu unterhalten? Oder zumindest sie zu hören?
Elena lächelte still vor sich hin. Auch wenn sie einsam hier am Rand des Moors stand, die Zeit wurde ihr nicht lang. Sie hörte die Botschaften gern und liebte den Blick über eine wundersame Welt, die sich im Laufe der Zeit kaum verändert hatte.
Elena fürchtete sich auch nicht davor, so allein in der Nacht am Rand des Moors zu stehen. Das war alles wunderbar für sie. Als tauber Mensch war sie sowieso mehr mit sich selbst beschäftigt, und die Stimmen der Toten zu hören, das war schon etwas Besonderes.
Wie lange sie in den Nächten am Rand des Moors stand, darüber hatte sie nie nachgedacht. Zeit spielte für sie keine große Rolle. In ihrer tauben Welt war sie darauf nicht angewiesen. Es gab
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