1422 - Mörderischer Muttertag
MUTTERTAG!!!
***
Tina Baker wagte nicht zu atmen. In diesen Sekunden war sie aus ihrem normalen Leben herausgerissen worden. Sie hatte das Gefühl, in einem Vakuum zu stehen. Die Welt um sie herum war verschwunden, und es gab für sie nur noch den Spiegel mit dieser Aufschrift.
Es waren bestimmt mehr als dreißig Sekunden vergangen, als sie sich wieder bewegte. Aber mehr als ein Augenzwinkern brachte sie nicht zustande, und sie hörte ihr eigenes Stöhnen. Es war jetzt wichtig, dass sie sich am Rand des Beckens abstützte, denn ihre Knie wurden allmählich weich, und sie wollte auf keinen Fall zu Boden sinken.
Die normale Welt breitete sich wieder um sie herum aus, und die Person, die tief aufstöhnte, war sie selbst. Tina musste sich schon zusammenreißen, um die Schrift noch mal zu lesen, und der Text war und blieb der Gleiche.
»Bald ist Muttertag«, flüsterte sie, und sie wusste auf der Stelle, dass damit etwas Bestimmtes verbunden war. Darüber wollte sie nicht im Waschraum nachdenken, sondern in ihrem kleinen Büro.
Der Spiegel allein war ihr schon suspekt. Als noch schlimmer empfand sie die Tatsache, dass dieser kleine Raum von einem Fremden betreten worden war, denn irgendjemand musste die Nachricht ja hinterlassen haben, und das war sicherlich kein Freund von ihr.
Sie stöhnte auf, schüttelte den Kopf, las den Text noch mal und griff nicht zu einem Tuch, um ihn zu entfernen. Das traute sie sich seltsamerweise nicht.
Dafür blickte sie noch mal gegen den Text. Wie jemand, der sich alles genau einprägen will.
Dabei erlebte sie die nächste Überraschung. Es war ja nicht die gesamte Spiegelfläche beschmiert worden. Ein Großteil des Rechtecks lag frei, und dort fiel ihr die Bewegung auf. Etwas erschien, und es sah so aus, als käme es aus den Tiefen der Wand, die hinter dem Spiegel lag.
Es war der Umriss eines Gesichts!
Sehr bleich und zudem leicht zittrig. Als könnte sich das Bild nicht entscheiden, ob es sich in aller Schärfe zeigen sollte oder nicht.
Es war ein Phänomen, das Tina Baker Angst einjagte.
Es wäre nur zu normal gewesen, wenn sie aus dem Raum geflüchtet wäre, aber das tat sie nicht. Sie blieb wie angewurzelt stehen und konnte ihren Blick nicht von dem Spiegel lösen.
Ein Frauengesicht, das sah sie sehr deutlich. Aber es war zugleich eines, in dem es kein Leben gab. Es kam ihr vor wie eine Maske.
Und doch war es ihr nicht fremd.
Genau diese Tatsache hinterließ bei ihr einen Schock. Sie glaubte daran, dass sie es schon mal gesehen hatte, nur lag das lange zurück.
Sie musste in Jahren rechnen und dabei in ihrer eigenen Vergangenheit nachforschen.
Das Gesicht einer Frau, einer bestimmten Frau.
Je länger sie auf diese nicht eben scharfen Konturen schaute, umso bekannter wurde das Gesicht. Die Vergangenheit tauchte Teil für Teil wieder auf. Eine Zeit, die sie verdrängt hatte. Jetzt kehrte sie mit Macht zurück.
Ja, sie erinnerte sich.
Sie kannte das Gesicht!
Plötzlich war alles klar. Was in der Kindheit so beeindruckend gewesen war, das verging nie.
Tina hörte sich selbst stöhnen. Die Hände hatte sie geballt, und ihre Fingernägel stachen in das Fleisch der Handballen.
Es gab keinen Zweifel. Was sich da in der Spiegelfläche zeigte, war das Gesicht ihrer Mutter…
***
Wie sie in ihr kleines Büro gekommen war, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Jedenfalls kehrte sie erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als sie hinter dem Schreibtisch saß und auf den Bildschirm des Laptops schaute, ohne ihn wirklich zu sehen, denn in ihrem Kopf lief ein völlig anderer Film ab.
Mit der Intensität einer brutalen Wahrheit war da die Vergangenheit zurückgekehrt. Sie stand vor ihrem geistigen Auge wie ein großer Bildschirm.
Es waren schlimme Zeiten in einem Heim gewesen, in dem an erster Stelle Zucht und Ordnung herrschten. Sie hatte dort schlimme Dinge erlebt. Die meist schon älteren Erzieherinnen konnten manchmal sehr grausam sein, wenn es um das Bestrafen ging. Wahrscheinlich waren sie frustriert darüber, dass sie ihre Jugend verloren hatten. Nun sahen sie sich mit jungen Menschen konfrontiert.
Unter dem Deckmantel einer strengen Erziehung loderte so manche Geilheit der älteren Frauen, die sich oft darum gerissen hatten, die Aufsicht beim Duschen der Mädchen zu übernehmen, um sich an deren Körpern satt zu sehen.
Dabei blieb es des Öfteren nicht. Wer kleine Vorteile haben wollte, der musste so manche der Erzieherinnen in den recht wenigen Freistunden
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