1426 - Ein Hauch von Hölle
meinte jedenfalls Shao. Dazu trug sie eine blaue Jeans und hohe Laufschuhe von neutraler grauer Farbe. Irgendwie hatte Shao den Eindruck, dass diese Person nicht wie eine Mieterin aussah, aber sie wollte nichts übereilen.
Trotz des Misstrauens blieb Shao freundlich und produzierte bei ihrer Frage ein Lächeln.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Ein Heben der Schultern. Danach folgte die leise Antwort. »Ich – ich weiß nicht so recht.«
»Sagen Sie mir doch einfach Ihr Problem.«
»Ich suche jemanden.«
»Und wen?«
»Einen gewissen John Sinclair!«
Das ist sie!, dachte Shao. Das musste die Frau sein, die im Yard Building angerufen hatte. Aber sie wollte es genau wissen und sagte: »Er ist nicht hier. Vielleicht sollten Sie es mal an seiner Arbeitsstelle versuchen.«
»Das habe ich schon.«
»Und?«
Sie kam einen Schritt näher. »Man hat mir gesagt, dass er nach Hause gegangen ist. Jetzt bin ich hier.«
»Das sehe ich. Aber ich kann Ihnen leider nicht helfen. Er ist nicht hier.«
Sie senkte den Blick. »Das ist schlecht.«
»Was wollen Sie denn von ihm?«
Die Fremde hob den Kopf wieder an. »Sorry, aber das kann ich nur ihm selbst sagen und keiner Fremden.«
»Vielleicht bin ich nicht so fremd.«
»Ach…«
»Wir sind Nachbarn und sogar mehr als das. Wir sind gute Freunde. Sie brauchen mir ja nicht zu sagen, was Sie von John wollen, aber Sie können Vertrauen zu mir haben.«
Die Frau überlegte. Dann fragte sie: »Kann ich denn hier auf ihn warten?«
»Wo?«
Sie deutete zu Boden. »Hier. Ich kann mich hinsetzen, und es wird wohl nicht so lange dauern.«
Shao wusste nicht, ob ihr die Person Leid tun sollte. Sie war neugierig auf das, was sie von John wollte, und das würde sie unter Umständen herausbekommen. Aber nicht, wenn sie weiterhin im Flur stehen blieben und redeten.
»Wissen Sie was, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie wollen, können Sie bei mir so lange warten. Es bringt ja nichts, wenn Sie hier im Flur herumsitzen. In der Wohnung ist es gemütlicher.«
Die Frau wurde sogar leicht rot. »Das kann ich doch gar nicht annehmen, Madam. Ich…«
»Sagen Sie Shao.«
»Und ich heiße Mirjam.«
»Wunderbar.«
Damit war das Eis gebrochen. Shao öffnete die Tür weiter und ließ Mirjam eintreten. Sie war wirklich gespannt darauf, was sie von John Sinclair wollte, und sie nahm sich vor, es herauszufinden.
Shao führte die Besucherin ins Wohnzimmer. »Bitte setzen Sie sich doch.«
»Danke sehr.« Mirjam nahm etwas schüchtern auf der Sesselkante Platz. Um etwas zu tun und sich abzulenken, rückte sie ihren Hüftgürtel zurecht. Eine Geldtasche wurde nach vorn geschoben, und daran nestelte sie herum.
»Gemütlich haben Sie es hier.«
»Oh, danke.« Shao lächelte. »Sagen wir so: Man kann es aushalten. Ich hätte zwar lieber einen Garten, in den ich gehen könnte, aber das war nicht zu machen. Vieles hier in der Stadt ist einfach unbezahlbar geworden.«
»Das kann ich mir denken.«
Shao wollte natürlich mehr wissen, aber sie kam nicht sofort zur Sache. Sie konnte sich Zeit lassen und dabei über gewisse Dinge nachdenken, die ihre Besucherin angingen. Auch wenn sie einen schüchternen Eindruck machte, sie konnte ihr nicht so trauen, wie sie es vielleicht gern getan hätte.
»Möchten Sie etwas trinken, Mirjam?«
»Wasser wäre nicht schlecht. Es kann auch aus der Leitung sein. Ich bin da nicht anspruchsvoll.«
»Ich hole es Ihnen. Warten Sie.«
Shao verschwand in der Küche. Sie ließ die Tür offen. Sie würde hören, wenn sich ihre Besucherin bewegte.
Wenig später kehrte sie mit dem Wasser zurück. Es stammte nicht aus der Leitung und sprudelte etwas.
»Bitte.«
»Ja, danke sehr.«
Mirjam trank langsam, leerte das Glas, stellte es weg und lächelte Shao an, die sich ebenfalls gesetzt hatte.
Die Chinesin konzentrierte sich auf ihre erste Frage.
»In welch einer Verbindung stehen Sie denn zu unserem Nachbarn?«, fragte sie.
»Ähm – wie bitte?«
Sie wiederholte die Frage.
»Ach so, ja.« Mirjam lachte. »Das war eigentlich eine komischer Zufall, dass John und ich…« Der Hustenanfall kam urplötzlich. Sie wurde dabei regelrecht durchgeschüttelt. Tränen traten ihr in die Augen.
Shao wollte ihr helfen, doch die Besucherin wehrte ab.
»Nein, ich muss nur an mein Mittel herankommen.«
»Haben Sie es denn bei sich?«
»Ja.«
»Und wo?«
Mirjam nestelte an der Gürteltasche. Da brauchte sie nur einen Reißverschluss zu öffnen. Dabei hüstelte sie leise vor sich
Weitere Kostenlose Bücher