1444 - Legende und Wahrheit
das deine Truppen?" fragte Julian Tifflor.
Es fiel Miraco offenbar nicht schwer, Tifflors besorgten Blick zu deuten. „Das sind meine Truppen", antwortete er. „Ich weiß, was du meinst. Sie sind körperlich und geistig unvollkommen. Das ist ein Problem, mit dem wir seit Generationen leben müssen."
„Seit dem Landfall", nickte Julian Tifflor. „Ich kann es mir denken."
Miraco musterte ihn verwundert. „Du kannst es dir denken?" echote er „Wir haben miteinander zu sprechen", sagte Tifflor anstelle einer Antwort. „Ihr braucht Hilfe, und wir sind in der Lage, sie euch zu beschaffen. Führ uns in die Stadt.
Wie nennt sich eure Regierung?"
„Das Konzilium der Wenigen. Warum fragst du?"
Ein mattes Lächeln flog über Tifflors Gesicht. Er verstand. „Ruf die Wenigen zusammen", verlangte er von Miraco. „Sag ihnen meinen Namen und mach ihnen klar, daß wir kommen, um euch zu helfen."
*
Sie waren sich ihrer Würde wohl bewußt - der Würde, die daher rührte, daß sie unter Hunderttausenden von Unglücklichen, die dem Mongolismus der Inzucht zum Opfer gefallen waren, als einzige, wenige ein normales Maß an Intelligenz besaßen und im Aussehen gesunden Menschen glichen.
Sie waren verwirrt; das sah man ihnen an.
Sie kannten den Namen Julian Tifflor aus der Legende. Damit, daß sie dem Mann gegenüberstehen würden, hatten sie nicht gerechnet.
Der Sitzungsraum des Konziliums war auf altteranische Art eingerichtet: sparsam, ohne unnütze Ornamente, mit schwerem, aus dunklem Holz gefertigten Möbeln. Um einen langen, rechteckigen Tisch reihten sich acht steife, hochlehnige Stühle, je einer an den beiden Stirn- und je drei an den Längsseiten. Die Wenigen zählten insgesamt sechs. Miraco gehörte dem Konzilium nicht an. Man hatte ihn jedoch zu dieser Besprechung zugelassen, weil er es war, der die Fremden herbeigebracht hatte. Durch zwei große Fenster ging der Blick hinaus über die Dächer der Stadt. An der Schmalseite des Tisches, die vom Eingang am weitesten entfernt lag, stand ein Stuhl von besonderer Größe. Er war für den Vorsitzenden des Konziliums reserviert. Dahinter, an der getäfelten Wand, hing ein - offensichtlich von Hand gemaltes - Bild, das unwillkürlich die Aufmerksamkeit eines jeden, der hier zum erstenmal eintrat, auf sich zog.
Julian Tifflor hatte, von Miraco geleitet, mit allen Begleitern den Sitzungssaal betreten. Die Mitglieder des Konziliums hatten sich erhoben, um den berühmten Terraner zu ehren. Tifflors erster Blick galt dem großen Gemälde. Hinter ihm stöhnte Bolder Dahn: „Hohe Macht des Schicksals! Das darf nicht wahr sein!"
Das Bild stellte eine Frau von unglaublicher Häßlichkeit dar. Sie hatte ein breites, flachgedrücktes Gesicht mit langer, spitzer Nase und einem viel zu klein geratenen Mund. Die Augen blickten scharf und durchdringend, jedoch nicht ohne Intelligenz. Das aschblonde Haar war straff nach hinten gekämmt und zu einem überdimensionierten Knoten gerafft.
Die Mitglieder des Konziliums bemerkten das Staunen ihrer Gäste wohl.
Nach einigen Sekunden verlegenen Schweigens begann der Vorsitzende zu sprechen: „Ich begrüße euch, Freunde aus der Milchstraße. Wie ich zu meiner Genugtuung bemerke, zollt ihr der Großen Mutter die Achtung, die ihr gebührt."
„So könnte man auch sagen", murmelte Bolder Dahn mit unterdrückter Stimme. „Illu, das verzeih' ich dir nicht!"
„Wir haben hohen Respekt vor der Großen Mutter", antwortete Julian Tifflor so würdevoll, wie es ihm unter den Umständen möglich war. „In einer Zeit, die weit zurückliegt, war sie eine hervorragende Wissenschaftlerin. Ihr verdankt die Menschheit die ersten, auf experimenteller Basis erworbenen Kenntnisse der Schwarzen Löcher. Es war ein tragisches Unglück, dem Illu Siragusa zum Opfer fiel."
Ein Lächeln ging über das Gesicht des Vorsitzenden. „Ein Unglück muß es wohl gewesen sein", erklärte er mit dickem Akzent. „Aber letzten Endes verdanken wir ihm unsere Existenz."
Da hielt es Bolder Dahn nicht mehr länger. Er trat vor und wies auf das Gemälde. „Dort, woher wir kommen, wird von Illu Siragusa als einer ebenso brillanten wie schönen Frau gesprochen", rief er empört. „Ist es möglich, daß der Künstler, der dieses Bild anfertigte, die Große Mutter falsch gesehen hat?"
„Einer ihrer vierzehn Söhne?" antwortete der Vorsitzende süffisant. „Wie hätte er sich in seiner Mutter versehen können?"
„Vierzehn...", hauchte Bolder Dahn entsetzt.
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