1455 - Das Gewissen des Henkers
entsprechend reagiert. Ich hatte so manchen Henker endgültig zum Teufel geschickt, und die meisten von ihnen hatte ich nicht unbedingt als normale Menschen ansehen müssen. Es waren Gestalten gewesen, die nur äußerlich an einen Menschen erinnerten. Wahrscheinlich war das auch bei Lincoln Lester der Fall.
Eine Macht musste hinter ihm stecken. Das Porträt war so etwas wie ein Bindeglied gewesen. Immer stärker wurde der Gedanke in mir, dass der Henker nicht normal tot war. Er war auf irgendeine andere Art und Weise verschwunden, was wohl mit einem Existenzwechsel zu tun hatte, aber nicht mit seinem eigentlichen Tod. Ich war mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass andere Mächte ihre Hände mit im Spiel hatten. Da war der Weg zur Hölle nicht weit.
Und wenn ich über den Begriff Hölle nachdachte, dann kam mir automatisch der Teufel in den Sinn. Er war einer der höchsten Dämonen. Er trat unter verschiedenen Namen auf, er war der Chef des Schreckens. Von ihm hatten sich die Menschen die schlimmsten Bilder gemacht und sie auch in Zeichnungen oder Holzschnitten der Nachwelt hinterlassen.
Henker waren niemals angesehene Leute. Man brauchte sie, aber man verachtete sie auch. Zwischen ihnen und dem Teufel gab es nie eine große Distanz.
Manche waren der Hölle hörig gewesen, denn sie hatten durch ihre Taten dem Teufel Seelen zugeführt und fühlten sich deshalb unter seinem Schutz stehend.
Manche Henker starben nicht endgültig. Das hatten einige zu spüren bekommen, denn es war ihnen nach ihrem Tod nicht gelungen, den Frieden oder die Ruhe zu finden, die anderen Seelen zuteil wurde.
Hatte ich hier Ähnliches zu erwarten?
Ich wusste es nicht. Außerdem wusste ich zu wenig über den Henker. Unter Umständen gab es eine Möglichkeit zur Recherche. Allerdings nicht durch Fiona, sie wusste zu wenig. Da musste ich mich schon an ihre Verwandten wenden oder an ihre Eltern.
Nach denen fragte ich.
Sie zuckte zusammen, als sie angesprochen wurde. »Bitte, Mr Sinclair, lassen Sie meine Eltern aus dem Spiel. Sie haben damit nichts zu tun. Außerdem leben Sie auf dem Land. London war ihnen zu teuer. Sie sind vor gut drei Jahren nach Wales gezogen.«
»Okay. Aber es geht mir mehr um die Vergangenheit des Henkers. Jemand muss was über ihn wissen.«
»Nicht meine Eltern, Mr Sinclair.«
»Und wie verhält es sich mit Ihrem Onkel?«
»Der weiß sicherlich mehr.« Sie hob die Schultern. »Aber er und meine Tante sind im Urlaub. Da müssen Sie schon warten.«
»Erreichen kann man sie doch trotzdem, oder?«
»Das schon.«
»Gut, dann werde ich mich später mit ihnen in Verbindung setzen.«
Ich warf einen Blick auf das leere Rahmenviereck.
»Viel werden wir hier nicht herausfinden können. Wir müssen uns damit abfinden, dass jemand unterwegs ist.«
Fiona runzelte die Stirn. »Jemand?«
»Ja, denn ich weiß nicht genau, um wen es sich handelt und ob wir es mit einem normalen Menschen zu tun haben. Es kann sich auch um eine Zwischenperson handeln.«
Mit meiner letzten Bemerkung hatte ich sie geschockt. Fiona war nicht in der Lage, eine Frage zu stellen. Sie schluckte einige Male und schaute sich ängstlich um.
Ich wollte sie nicht weiter ängstigen und fragte deshalb, was sie vorhatte.
Die Antwort erfolgte schnell.
»Hier kann ich nicht bleiben. Hier werde ich auch nicht bleiben!«, flüsterte sie scharf. »Ich würde hier keine ruhige Minute mehr finden. Nein, ich ziehe zurück in meine kleine Wohnung in der Innenstadt.«
»Das hätte ich an ihrer Stelle auch getan.«
»Gut, Mr Sinclair. Haben Sie noch etwas Zeit?«
»Sicher.«
»Dann packe ich eben einige Sachen zusammen.«
»Kein Problem, lassen Sie sich Zeit.«
»Danke.«
Fiona verschwand. Ich blieb in der Stille der oberen Etage stehen und machte mir meine Gedanken. Einiges ging mir durch den Kopf, doch es wollte sich nicht zu einem Ganzen fügen. Es war mehr der Wirbel der Gedanken, die sich um den Henker drehten, dessen Porträt innerhalb des Rahmens verbrannt war.
Hatte Fiona ihn tatsächlich gesehen?
Darüber dachte ich auch nach. Es war eine harte Stresslage für sie gewesen. Sie hatte etwas erlebt, was es eigentlich nicht geben durfte, und da konnte man schon leicht durchdrehen und sich etwas vorstellen, das es in der Wirklichkeit nicht gab.
Aber es konnte auch anders sein. Ich stellte mich auf beide Lagen ein und betrachtete noch mal intensiv den leeren Rahmen. Zu sehen gab es nichts, auch mein Kreuz gab mir keinen Hinweis. Man konnte von
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