1455 - Das Gewissen des Henkers
schlucken. Sie konnte ja nichts dazu, dass es in der Familie jemanden gegeben hatte, der dem Beruf des Henkers nachgegangen war. Das lag lange zurück. Lincoln Lester war längst tot.
Nur sein Porträt hing dort.
Ein Bild, das sie längst verbrannt hätte. Nicht so ihr Onkel und ihre Tante. Sie hatten es an der Wand hängen lassen und schienen sogar noch stolz darauf zu sein.
Es war nicht ihr Ding. Es machte auch keinen Spaß, sich das Bild anzuschauen, denn der verstorbene Verwandte war nicht eben ein Typ gewesen, in den sich eine Frau schnell hätte verlieben können.
Das Aussehen machte es ja nicht allein, trotzdem: Fiona konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Henker auch innere Werte besessen hatte.
Sie konnte das Gemälde einfach nicht ignorieren und bewegte sich deshalb weiter darauf zu. Die Spannung in ihrem Innern wich nicht.
Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet. Nichts bewegte sich in ihren Augen. Sie fühlte sich von einer Gefahr umgeben, die sie nicht sah, und nach weiteren zwei Schritten blieb sie in der Nähe des Bildes stehen.
Nicht direkt davor, sondern in einer Haltung, in der sie schräg auf das Gemälde schauen konnte.
Es war verrückt, es war unglaublich, und es jagte ihr in diesem Moment eine große Angst ein.
Das Bild hatte sich verändert!
Sie hatte das Gesicht mit dunklen Augen in Erinnerung. Augen so dunkel wie das Haar.
Und jetzt?
Keine dunklen Augen mehr.
Sie hatten eine andere Farbe angenommen. So rot wie die Glut der tiefsten Hölle!
***
Der Vergleich schoss ihr automatisch durch den Kopf, und Fiona wunderte sich über sich selbst, dass sie nicht schreiend davonlief.
Vor dem Bild wartete sie ab, jedoch noch immer in einem schrägen Winkel zu ihm. Sie bewegte sich nicht. Die Furcht und das plötzliche Erkennen des veränderten Motivs hatte sie starr werden lassen. Nur unzählige Gedanken jagten kreuz und quer durch ihren Kopf.
Wie konnte dieser Typ derartig rote Augen haben?
Es war ihr ein Rätsel. Es war durch nichts zu erklären. Hier musste etwas passiert sein, was sie in diesen Augenblicken einfach nicht fassen konnte.
Zwei rote Augen glotzten sie an.
Augen ohne Pupillen, mit dieser Höllenglut gefüllt. Warum war das passiert? War möglicherweise jemand in das Haus eingedrungen und hatte die ursprünglich schwarzen Pupillen mit roter Farbe überpinselt?
Es wäre die einfachste und auch normalste Lösung gewesen. Komischerweise wollte sie daran nicht glauben. Hinter dieser Entdeckung steckte mehr, viel mehr, das wusste sie. Etwas, das nicht in das normale Dasein hineinpasste und ihr große Probleme bereiten würde. Noch stand sie erst am Anfang, doch das würde sich ändern.
Fiona hatte nie Sympathie für das Porträt des Henkers gehabt.
Jetzt aber widerte es sie an. Sie hasste es. Sie hätte am liebsten mit beiden Fäusten hineingeschlagen und die verdammte Leinwand zerrissen, aber das traute sie sich nicht. Faszination und Angst hielten sich bei ihr die Waage.
Die hohe Stirn, die mit Falten bedeckt war. Die knochige Nase, deren Flügel am Ende breit ausliefen. Darunter der zu einem breiten Grinsen verzogene Mund.
Sie überlegte. Hatte der Mund schon immer dieses Grinsen gezeigt?
Eine Antwort konnte sie sich darauf nicht geben. Die Erinnerung daran war in ihr irgendwie gelöscht worden. Es war ihr unmöglich, sich zusammenzureißen. Sie zitterte und fror am gesamten Körper.
Und das Geräusch?
Das hatte sie in den letzten Sekunden nicht mehr vernommen.
Dennoch ging sie davon aus, dass sie sich nicht geirrt hatte. Von ihr stammte das Geräusch jedenfalls nicht.
Der Mund zuckte.
Die plötzliche Bewegung löste bei Fiona die Starre. Sie unterdrückte den Schrei nicht. Mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht starrte sie auf das Gemälde und in ein Gesicht, das keines mehr war, sondern nur noch eine bösartige und widerliche Fratze.
Die Fratze, die nur gemalt war und trotzdem lebte!
Das zu begreifen war einfach zu viel für die Frau. Ohne dass sie es richtig wollte, wich sie zurück. Sie trug nur das lange weiße Nachthemd. Ihre Ferse verfing sich für einen Moment im Saum des Nachthemds. Dabei hatte sie Glück, nicht zu stolpern, und dann sah sie etwas, das es einfach nicht geben konnte und durfte.
Das Gesicht beugte sich vor. Zugleich zog sich der Mund noch mehr in die Breite und zeigte dieses widerliche und zugleich wissende Grinsen, das ihr eine starke Angst einjagte, und plötzlich wusste sie, dass sie sich in Lebensgefahr
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