1459 - Der Dieb von Sira-VII
ungewöhnlich.
Erholung, Kürzertreten - für sie waren das Fremdwörter, und gerade jetzt war an eine Pause nicht zu denken. Abgesehen davon: Untätigkeit verleitete zum Grübeln, und das war das letzte, was sie jetzt brauchen konnte.
Besser war es, sich in die Arbeit zu stürzen, sich mit hektischer Aktivität zu betäuben, bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu gehen und dann - am Rand totaler körperlicher Erschöpfung - eines dieser fabelhaften kleinen Mittelchen zu schlucken. Dann kam der Schlaf schnell, und er war tief und jenseits aller Träume.
Keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit für die diversen Erinnerungen, sich hinterrücks ins Bewußtsein zu schleichen und dort Unruhe zu stiften.
Mit ihrer Arbeit konnte sie sich ablenken und ... sühnen?
Ja, auch das.
Sie war eine Mutantin, und soviel sie wußte, gehörte ihre Fähigkeit zu den seltensten Spielarten dessen, was man unter dem Sammelbegriff „Psi-Kräfte" zu bündeln pflegte, weil es nun einmal bequem war, den Dingen einen Namen und eine gewisse Zuordnung zu geben.
Man bezeichnete sie als eine „Metabiogruppiererin". Ein komplizierter Begriff für eine schwerverständliche Sache.
Wenn man es einfach ausdrücken wollte, lief es etwa darauf hinaus: Wie ein Suggestor das Denken und Fühlen eines Lebewesens beeinflussen konnte, so manipulierte Irmina Kotschistowa seine Physis. Sie verstand sich darauf, die in den Zellkernen verankerten Informationen zu verändern. Tat sie das bei kranken, entarteten Zellen, dann war ihr spezielles Talent eine der nützlichsten und segensreichsten Fähigkeiten, die je ein Mensch besessen hatte. Setzte sie dieses Talent aber gegen gesunde Zellen ein, dann wurde daraus eine tödliche Waffe.
Schon vor langer Zeit hatte sie sich geschworen, sich ausschließlich der positiven Seite dieser zweischneidigen Begabung zu widmen. Und sie hatte es mit Erfolg getan. Selbst im Zeitalter einer fast bis zur Perfektion ausgereiften medizinischen Technik der physischen Regeneration gab es Fälle, in denen Irmina Kotschistowas Kunst schier unentbehrlich war.
Das war eine Chance für alle, mit denen sie es zu tun bekam, und eine persönliche Befriedigung für sie selbst.
Es war auch Sühne - war es immer gewesen.
Denn am Anfang, als sie sich ihrer Möglichkeiten noch kaum bewußt gewesen war, hatte sie - oft allzu schnell und unbedacht, wie sie wußte - Dinge getan, deren sie sich schämte.
Und jetzt ...
Fellmer Lloyd hatte sich in tödlicher Gefahr befunden. Sie hatte das erkannt und ihn gerettet.
Aber um welchen Preis!
Wenn Ge-Liang-P'uo nicht gewesen wäre, hatte ich es nicht geschafft, dachte sie, und sie wünschte sich, sie hätte mit Nachdruck darauf bestanden, daß die Kartanin sich von SIRA-VII fernhielt.
Andererseits hätte es dann Fellmer Lloyd erwischt - und nicht nur ihn. Es war höchst unwahrscheinlich, daß der Fremde sich mit nur einem einzigen Erfolg zufriedengegeben hätte. Er hätte weitergemacht. Und es wären vermutlich viele gestorben, ehe er endlich seine Gier befriedigt hatte.
Seine Gier worauf?
Man hatte ihr gesagt, daß der, gegen den sie gekämpft hatte, höchstwahrscheinlich auch für Waringers Tod verantwortlich war und daß er es auf die Zellaktivatoren abgesehen hatte.
Geoffry Abel Waringer - mit ihm hatte alles angefangen, damals auf Last Hope, als Irmina Kotschistowa zu seinem Team gehört hatte.
Und wenn dieser verdammte Hundesohn, der drüben in SIRA-VII Fellmer Lloyd in den Krallen hatte, wirklich mit dem Aktivator-Dieb identisch war, wenn er es gewesen war, der Waringer bestohlen, ihn hilflos auf Satrang zurückgelassen, ihn zu dieser elenden, grausamen Art des Sterbens verurteilt hatte, dann ...
In allen Gutachten, die man jemals über Irmina Kotschistowa geschrieben hatte, war es neben ihrem speziellen Talent ihre ungeheure Kraft zur Selbstbeherrschung, die man immer wieder lobend hervorhob. Was diejenigen, die diese Gutachten schrieben, nicht wußten: Irmina Kotschistowa hatte sich diese Selbstbeherrschung aus einem ganz bestimmten Grund zugelegt - aus Angst vor sich selbst, Angst vor ihren Emotionen, Angst vor der Intensität, mit der sie zu hassen vermochte. Sie hatte ihre Seele in ein Korsett geschnürt, denn sie wußte, wie gefährlich die Synthese aus überschäumendem Temperament und einer so tödlichen Spezialbegabung, wie sie sie besaß, werden konnte.
Der Haß ist ein schlechter Ratgeber.
Und nun hatte sie doch zugeschlagen.
In Notwehr - gut.
Um Fellmer Lloyd zu
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