1479 - Die Totenfrau vom Deichhotel
nicht mal beschreiben, du musst mir einfach glauben.«
»Das ist klar.« Ich räusperte mich. »Könnte ich mal mit der Künstlerin sprechen?«
»Klar. Sie und ihr Mann wohnen ja hier im Hotel.«
»Hast du die beiden heute schon gesehen?«
»Nein, noch nicht.«
»Okay, das ist nicht tragisch.« Ich nickte Claas zu. »Mal schauen, was die Zeit alles noch mit sich bringt.«
»Jedenfalls möchte ich gern die Sache geklärt haben. Ich finde es einfach schlimm, und ich möchte nicht, dass es hier Tote gibt. Als ich diese Totenfrau auf dem Friedhof sah, da wurde mir ganz anders. Da hatte ich das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Mir kam in den Sinn, dass alles wieder von vorn anfängt. Diesmal nicht mit einem Mörder-Mönch, sondern mit einer Geisterfrau, und ich glaube auch, dass es mit den Bildern auf den Totenbrettern zusammenhängt, die ich hier ausgestellt habe. Mehr kann ich auch nicht sagen, denn ich habe mich nicht getraut, über dieses Thema mit Frau Böhme zu sprechen.«
»Das werden wir ändern.« Ich schlug mit der flachen Hand auf die Theke. »Zunächst möchte ich die bemalten Totenbretter sehen. Ich bin gespannt, ob sie uns weiterbringen.«
»Gut, ich komme mit.«
Sehr wohl war Claas Claasen bei diesem Vorschlag nicht. Aber er hatte in den sauren Apfel gebissen und musste ihn nun auch schlucken…
***
Um diese Zeit war es im Deichhotel recht ruhig. Die meisten Gäste waren unterwegs, einige hielten sich auch im Wellness-Bereich auf.
Und so begegnete uns niemand auf dem Weg zu unserem Ziel. Mir fiel allerdings der Anbau auf und ich sagte: »He, da hast du dir einen Gefallen getan.«
»Ja, und auch den Gästen.« Claasen wies kurz durch die Glasscheibe. »Den Platz habe ich auch gebraucht.«
»Was macht dein Restaurant?«
»Läuft gut. Ich kann nicht klagen.«
»Dann ist ja alles bestens.«
»Klar. Bis auf diese Kleinigkeiten, die mich immer wieder aus dem Alltagstrott reißen.«
»Manchen packt es eben öfter als andere.«
»Gut gesagt. Nur möchte ich, dass du hier auch mal als Urlauber erscheinst, John.«
Ich lachte. »Würde ich gern, aber wenn ich tatsächlich komme, musst du immer damit rechnen, dass etwas passiert. Ich ziehe das Unheil irgendwie immer an.«
»Unheil oder die andere Seite.«
»Genau die.«
Claas Claassen gab keine Antwort. Er grinste mich nur an und hob die Schultern.
Dann hatte wir auch schon unser Ziel erreicht, und ich musste zugeben, dass die Bilder in der Tat an einem exponierten Platz hingen.
An einer hellen Wand, die sich gegenüber einer breiten Glasscheibe befand, die den Blick nach draußen bis hin zum Parkplatz frei ließ.
In der Nähe gab es noch einen zweiten Ausgang. Da der Flur einige Schritte weiter einen Knick machte und auch danach versetzt weiterlief, war eine Querwand gezogen worden, vor der ein Sofa stand, das in diesem Moment nicht besetzt war.
Wir standen vor den Bildern, und Claasens Stimme zitterte ein wenig, als er sagte: »Bitte, John, das sind sie.«
»Danke.«
Claasen trat etwas zurück. »Ich denke, dass du sie dir erst mal in Ruhe anschauen solltest.«
»Werde ich machen.«
Fünf Bilder hingen nebeneinander. Oder auch fünf bemalte Totenbretter, wenn man es genau nahm. Ich hatte mir bisher keine Vorstellungen gemacht und wollte mich überraschen lassen. Diese Überraschung gelang perfekt, denn ich war schon ziemlich erstaunt über die intensiven Farben.
Maler haben ihren eigenen Stil, und das war auch hier nicht anders. Ich bin kein Kenner, aber wenn ich die Bilder hätte beschreiben sollen, dann hätte ich von einem weichen Strich oder einer weichen Pinselführung gesprochen.
Es gab weder Ecken noch Kanten, und auch keine harten Winkel.
Die Motive waren von jemandem gemalt worden, der Frauen mochte. Ja, Sigrid Böhme hatte nur Frauenkörper gemalt, zwar nicht genau so, wie ein Mensch aussah, sondern mit weichen Linien und einem farbigen Hintergrund.
Mit dicken Pinselstrichen waren die nackten Körper auf den Untergrund gebracht worden. Verschiedene Gesichter hoben sich hervor, und die Bilder erinnerten mich von der Grundform her an das gestohlene Bild »Der Schrei« von Edvard Munch, das erst vor kurzem wiederbeschafft worden war.
Die Augen, die Münder, die Ohren, sie brauchten nicht unbedingt so wie in der Natur vorhanden zu sein. Da hatte sich die Malerin schon eine künstlerische Freiheit herausgenommen, aber ich wusste, was sie dem Betrachter zeigen wollte.
Mich interessierten vor allem die Totenbretter, die
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