1479 - Die Totenfrau vom Deichhotel
mir nicht erklären konnte.
Dass es etwas mit dem Totenbrett zu tun hatte, stand für mich fest.
Das Brausen begann sich zu verändern. Es verwandelte sich in geisterhafte Stimmen. Oder war es nur eine Stimme?
»Hilf uns – hilf uns – du kannst es – wir wollen frei sein…«
Innerlich fror ich ein. Mit einer derartigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Aber ich hatte mir die Geisterstimmen nicht eingebildet, denn sie wiederholten ihre Botschaft, auf die ich nicht reagierte. Dafür näherte ich mich dem zweiten Bild, bei dem die Farbe Grün vorherrschte, mit der der Frauenkörper gemalt war.
Es passierte das Gleiche!
Wieder war eine Stimme da. Ob dieselbe wie vorhin, war mir nicht klar. Aber sie bat darum, befreit zu werden, und so erging es mir auch mit den restlichen Bildern.
Hilfeschreie erreichten mich. Nur sie und nichts anderes. Aber wer hatte geschrien?
Ich trat zurück und stellte jetzt fest, dass sich mein Kreuz etwas erwärmt hatte.
Claas hatte sich zurückgezogen. Er saß auf der Couch und schaute mir entgegen. Auf seiner Stirn schimmerten nicht wenige Schweißperlen.
Ich ließ mich neben ihm nieder.
»Du hast etwas herausgefunden, John, oder?«
»Das habe ich.«
»Und?«
»Ich hörte eine Botschaft.«
Er schüttelte den Kopf. »Wie? Botschaft?«
»Ja. In meinem Kopf.«
»Du meinst Stimmen?«
»Ja.«
»Die habe ich auch gehört, bevor mir die Totenfrau im Gang begegnet ist!« flüsterte er. »Die Stimmen sagten, dass sie ihre Totenruhe haben wollten, dass sie Erlösung suchten. Hast du das auch gehört?«
»Etwas Ähnliches, Claas. Man will Hilfe haben. Ja, man hat mich um Hilfe gebeten.«
»Wer denn?«
Die Frage hatte ich erwartet. Eine konkrete Antwort konnte ich nicht geben. »Wenn ich das wüsste, ginge es mir besser. Ich denke, dass ein Gespräch zwischen mir und Frau Böhme immer wichtiger wird. Dabei wird es nicht um ihre Frauengestalten gehen, sondern um das, auf dem sie gemalt worden sind – die Totenbretter eben.«
»Mein Gott, die Totenbretter.«
»Genau, Claas. Sie sind es. Die Malereien kann man als Tünche bezeichnen, aber bei ihnen verhält es sich anders. Ich würde sagen, dass sie magisch beeinflusst sind.«
»Bitte genauer.«
»Kann ich dir nicht sagen. Ich habe keine Beweise. In ihnen ist meiner Ansicht nach etwas zurückgeblieben.« Ich schaute schräg gegen die Bilder. »Sigrid Böhme hätte die Totenbretter nicht nehmen sollen, denke ich mal.«
»Aber genau das sollte der Gag sein. Das hat sie mir erzählt.«
»Wer weiß, woher sie diese Bretter hat. Aber das muss sie mir selbst sagen.«
»Soll ich ihr Bescheid geben?«
»Wäre nicht schlecht.«
»Und wo wollt ihr euch treffen?«
Ich lächelte. »Platz haben wir hier genug, denke ich. Da sind wir direkt bei den Beweisstücken.«
»Gut, ich sage ihr Bescheid. Wie ich sie einschätze, wird sie auch mitkommen.«
»Du machst das schon.«
Er winkte mir zu, nachdem er sich erhoben hatte. »Bis gleich dann, John, ich beeile mich.«
»Schon gut…«
***
Es war für mich eine ungewöhnliche Situation. Ich saß hier allein im Flur, schaute durch die breite Glasscheibe in den Sylter Himmel, der an Bläue gewonnen hatte, und doch war es keine normale Szene, auch wenn das hereinfallende Licht gegen die fünf Bilder fiel und dabei die grellen Farben noch mehr hervorhob.
Trotzdem sahen die Bilder nicht freundlicher aus.
Ich stand auf und stellte mich vor die Kunstwerke. Äußerlich war ihnen keine Veränderung anzusehen, da hatte die Berührung mit meinem Kreuz wirklich nichts hinterlassen. Aber es musste etwas aus diesen Brettern hervorgeholt haben, das seine eigene Geschichte hatte und wahrscheinlich magisch beeinflusst war.
Das Kreuz hatte etwas geweckt, das bisher in einem magischen Schlaf gelegen hatte. Nur konnte ich nicht sagen, was es dort hervorgeholt hatte. Jedenfalls war es etwas, das in einem direkten Gegensatz zu den Kräften meines Kreuzes stand, und dabei konnten durchaus schwarzmagische Kräfte ihre Hände im Spiel haben.
Von der linken Seite her hörte ich ein Pfeifen. Jemand ging durch den Flur, und als ich den Kopf drehte, tauchte ein hoch gewachsener Mann mit dunkelblonden Haaren auf. Er war in einen Bademantel gehüllt, trug die weißen Hotelschlappen und blieb plötzlich stehen, als wäre er gegen einen Balken gelaufen.
»Nein!« rief er.
»Doch«, sagte ich.
»Das gibt es nicht!« Die Stimme war lauter geworden. Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich – ich – muss an
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