1486 - Im Tempel der Furcht
Lügnerin halten würde, wären wir nicht unterwegs.«
»Dann will ich das mal so sehen.«
»Tun Sie das.«
Wir hatten die Gegend inzwischen erreicht, in der Rosy Keller wohnte. Ein ruhiges Stück London im Süden in der direkten Fahrtrichtung zum Centre Court in Wimbledon.
Hier waren um diese Zeit nicht mehr viele Autos unterwegs, aber uns fielen die großen Lastwagen auf, die ihre Waren zu den Großmärkten schafften.
Nach wie vor bedeckten Wolken den Himmel wie ein dichter Vorhang.
Das GPS hatte ich ausgeschaltet. Rosy Keller wies mich mit leiser Stimme an, wie ich zu fahren hatte. Sie war ansonsten versunken in ihre eigenen Gedanken, somit gab sie mir die Zeit, auch über sie nachdenken. Ihre Geschichte hörte sich fantastisch an, und unzählige Menschen hätten sie ausgelacht, wäre sie ihnen erzählt worden.
Ich lachte nicht.
Meine Menschenkenntnis stufte ich mit der Note gut ein, und ich glaubte deshalb nicht, eine Spinnerin vor mir zu haben, die mir etwas unter die Weste schieben wollte. Man musste schon verdammt viel Fantasie besitzen, um sich das einfallen zu lassen. Zudem ging sie dem Beruf der Archäologin nach. Zwar buddelte sie keine Gräber aus, aber sie hatte eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten, da wusste man zwischen Realität und Vision schon zu unterscheiden.
Hin und wieder rutschte ihr die Brille über den Nasenrücken hinweg nach vorn. Sie schob sie jedes Mal an die richtige Stelle zurück.
Wahrscheinlich war das Sehgerät ein wenig zu groß.
»Wissen Sie, was ich mir wünsche, Mr. Sinclair?«
»Nein.«
»Dass alles trotzdem nicht wahr ist, was ich Ihnen erzählt habe. Es steckt einfach eine zu große Angst in mir, wenn Sie das verstehen können.«
»Nach Ihren Erlebnissen schon.«
»Danke.«
»Keine Sorge, Mrs. Keller, wir werden den Dingen schon auf den Grund gehen. Verlassen Sie sich darauf.«
»Ja, das wünsche ich mir. Ich möchte endlich wieder in Ruhe arbeiten können.« Sie lachte auf. »Es ist auch irgendwie verrückt, sich mit Serienmördern aus der Vergangenheit zu beschäftigen. Aber jeder braucht eben ein Thema.«
»Und Sie haben sich dafür entschieden.«
»Das habe ich.«
»Was war denn der Grund?«
»Bisher hat sich noch niemand damit wissenschaftlich auseinandergesetzt. Ich bin jetzt knapp über vierzig und damit in einem Alter, in dem sich manche Menschen die Frage stellen, ob das schon alles gewesen ist, was das Leben zu bieten hat. Ich meine nein, und habe mich noch mal aufgerafft.«
»Indem Sie über Serienkiller schreiben?«
»Nicht nur das, Mr. Sinclair. Ich schreibe meine Dissertation über sie.«
»Sie wollen noch Ihren Doktor machen? Gratuliere.«
»So ist es. Ich wollte noch mal eine Herausforderung haben. Deshalb habe ich damit angefangen.«
»Das schafft nicht jeder.«
»Aber immer mehr Menschen in meinem Alter.«
Das Thema war für Rosy Keller abgeschlossen. Sie beugte ihren Oberkörper leicht nach vorn, um besser sehen zu können.
»Wir sind gleich da. Wir müssen nur noch um einen Spielplatz herumfahren und können dann in die Straße einbiegen.«
»Alles klar.«
Der Rest war ein Kinderspiel. Ich fuhr nach der Kurve langsamer in die typische Wohnstraße hinein, in der nicht zu viele Laternen standen, sodass es recht dunkel war.
»Nach der Laterne ist es das dritte Haus, Mr. Sinclair.«
Ich nickte kurz.
Wenig später stand der Rover, und wir stiegen aus. Die Stille war tief, und es gab keinen Laut, der sie unterbrach.
Rosy Keller ging auf den Eingang zu. Ich folgte ihr mit langsamen Schritten und wollte bei ihr sein, wenn sie die Haustür geöffnet hatte.
Etwas Ungewöhnliches sah ich nicht.
Dafür hörte ich es.
Und auch Rosy Keller hatte es gehört. Vor der Haustür stehend zuckte sie zusammen. Man brauchte kein Fachmann zu sein, um zu wissen, was da passiert war.
Schüsse!
Mehrmals hintereinander!
Ich stand bereits bei Rosy Keller, die mich aus großen Augen anblickte und zitterte.
In mir klingelten alle Alarmglocken. Rosy kannte sich aus, im Gegensatz zu mir. Ich erahnte wohl die Richtung, doch ich wollte mich vergewissern.
»Wo ist geschossen worden?«
»Am – am Spielplatz, glaube ich…«
Es war nur gut, dass ich Rosy Keller an meiner Seite hatte, denn sie kannte den kürzesten Weg. Wir brauchten keinen Bogen zu schlagen und rannten an der Seite des Hauses entlang, an dem ich den Anbau wie einen Wulst sah. Wenig später verließen wir das Grundstück.
Warum war hier geschossen worden? Hatte es mit den
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