1487 - Die Dämonen-Prinzessin
selten. Sie hatten die Wahrheit erfahren und mussten sie erst mal begreifen, was ihnen natürlich nicht leicht fiel. Sie saßen auf ihren Plätzen und reduzierten sogar die Atemgeräusche, denn das Gehörte war einfach unglaublich.
»Stimmt das wirklich?« fragte ein Mädchen aus der ersten Reihe.
»Du hast es erfasst, meine Liebe. Es ist die Wirklichkeit. Gerrit hat eine Prinzessin gesehen. Er sah mich. Ich habe in diesem Haus gelebt. Ich ganz allein.«
»Aber das ist doch ein Märchen, bitte…«
»Bin ich ein Märchen?«
»Nein.«
»Danke. Und habe ich euch nicht zu verstehen gegeben, dass Märchen oft die Wahrheit enthalten?«
»Aber nur im übertragenen Sinn!« rief eine Frau aus der letzten Reihe. »Nur da…«
»Ändern Sie Ihre Denkweise, Madam. Seien Sie offen für alles. Auch für das, was oft unmöglich erscheint. Einen anderen Rat kann ich Ihnen leider nicht geben. Es wird Zeit, dass die Mythen wieder mehr Bedeutung im Leben der Menschen bekommen. Mythen und Märchen, Madam. Wo gibt es da die Grenze? Können Sie mir das sagen?«
»Das ist eine reine Glaubenssache«, lautete die Antwort.
»Bei vielen, das stimmt. Aber ich bin erschienen, um den Beweis anzutreten. Für mich sind die Märchen sehr wichtig. Etwas anderes akzeptiere ich nicht.«
»Erzählen Sie weiter«, sagte eine andere Frau. »Sie machen das sehr spannend. Auch ich will wissen, was geschieht.«
»Das werden Sie, keine Sorge, denn alles, was Sie bisher erlebt haben, war nichts anderes als ein Vorspiel. Eine Ouvertüre, eine Einleitung, denn jetzt kommen wir zum Hauptteil, in dem ich den Kindern und den Erwachsenen die Märchen so nahe wie möglich bringen will. Nur dann hat sich dieser Abend gelohnt.«
Den Frauen war der Wind aus den Segeln genommen worden. Sie schwiegen, aber die Kinder waren gespannt. Sie hockten auf ihren Sitzen und sahen aus, als würden sie jeden Augenblick in die Höhe springen, um auf die Erzählerin zuzulaufen.
Einer fasste sich ein Herz. »Was ist denn jetzt mit Gerrit? Er hat doch die Prinzessin gesehen.«
»Ja, das stimmt.«
»Und das bist du, nicht?«
»Ja, das bin ich.«
»Erzähle weiter von dem Haus und von Gerrit!« rief ein Junge.
»Das werde ich nicht. Ich habe euch doch gesagt, dass ihr das Märchen erleben könnt. Ich brauche nichts mehr zu erzählen. Die Welt der Märchen und die, in der wir leben, sind zusammengelegt worden. Sie bilden durch mich eine Einheit, und ihr sollt sehen, dass all das, was ich euch berichtet habe, keine Lüge ist. Ich habe nicht nur gesprochen, ich will euch die Welt zeigen. Da ist sie…«
Plötzlich waren auch die Erwachsenen in den Bann gezogen worden. Da meldete sich niemand mehr. Es herrschte plötzlich eine gespannte Stille, die nicht mal von heftigen Atemstößen durchbrochen wurde. Die Zeit schien angehalten worden zu sein. Der Raum glich in seiner Stille einem Friedhof.
Und es passierte etwas. Aber es geschah fast lautlos. Nur als sich die Prinzessin von ihrem Thron erhob, war das Rascheln der Kleidung zu hören.
Sie blieb für einen Moment stehen und schaute nach vorn. Dabei sah es so aus, als wollte sie die Menschen segnen, auf die sie schaute. Aber sie tat das Gegenteil, sie drehte sich von ihnen weg, nahm den Stuhl mit und ging in den Hintergrund hinein.
Sie ging und ging…
Sie hätte längst gegen die Wand laufen müssen, doch die schien nicht mehr vorhanden zu sein. So konnte Ophelia ihren Weg fortsetzen, als würde sie hinein in ein Niemandsland schreiten.
Den Zuschauern drehte sie weiterhin den Rücken zu, und als sie dann stehen blieb, da stellte sie den Stuhl auch wieder ab, auf dem sie dann ihren Platz einnahm.
Jedem kam die Szene bekannt vor. Sie war zuvor von Ophelia erzählt worden, denn genau die Person hatte der kleine Gerrit gesehen, und jetzt war Ophelia dazu geworden.
Die Kinder hatten andere Gedankengänge als die Erwachsenen.
Sie saßen da und staunten nur. Ihre Mütter allerdings waren schockiert, denn sie hatten miterleben müssen, wie zwei Welten zusammentrafen. Die Szenerie hatte sich verändert. Die Prinzessin saß auf ihrem Thron, aber sie war trotzdem eine andere Person geworden.
Um sie herum glühte es rot. Es gab auf der kleinen Bühne keine Grenzen mehr. Weder eine Wand im Hintergrund noch an den Seiten. Alles offen. Das Märchen war zur Wahrheit geworden.
In der letzten Reihe war das Getuschel der Mütter zu hören. Das neue Bild war für sie zu sehen, nur konnte sich niemand so recht einen Reim darauf
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