1490 - Das Rätsel der Leichenvögel
sodass es zu Verfilzungen kam.
»John…«
Die sanfte Stimme wehte mir entgegen. Ich wusste nicht, aus welcher Richtung sie kam, sie war einfach überall, und zu raten, wer da gesprochen hatte, brauchte ich nicht.
»Mandragoro«, sagte ich trotzdem.
»Ja, ich bin es.«
»Zeig dich.«
»Ich bin bei dir, John Sinclair. Du musst dich nur ein wenig anstrengen und dich umsehen.«
Seine Spielchen kannte ich, und es machte mir nichts aus, sie zu befolgen. Ich brach mir dabei keinen Zacken aus der Krone.
Sekunden später wusste ich Bescheid. Da war er zu sehen, und zwar dort, wo das Astwerk besonders stark verfilzt war, und er zeigte sich in einer menschlichen Gestalt…
***
Der Vergleich war möglicherweise etwas zu hoch gegriffen, mir wurde das Bild geboten, das auch schon Elliot Wells und Simone Radmann gesehen hatten.
Ein Gesicht!
Ein bestimmtes Gesicht, das nicht aus einer menschlichen Haut bestand. Es setzte sich aus Ästen und Zweigen zusammen, die so fest ineinander gefügt waren, dass sie eine starre und trotzdem noch biegsame Masse bildeten, denn Mandragoro bewies mir, dass er seine Gesichtszüge auch bewegen konnte. Sogar Augen blickten aus diesem dicht zusammengepressten Flechtwerk hervor. Die Augäpfel bestanden aus hellen, ins Gelbe reichende Flecken, die sich vom Grün der Augenumgebung abhoben.
Er war oben, ich stand unten, und ich glaubte nicht daran, dass sich dies ändern würde. Aber es gab etwas anderes, das mir durch den Kopf schoss. Mandragoro war nicht nur unbedingt ein Gesicht aus natürlichen Stoffen, er war etwas anderes. Er war etwas Gewaltiges. Wenn man ihn sah, dann zwar auch sein Gesicht, aber ich wusste sehr gut, dass dies nicht ausreichte. Zu ihm gehörte noch etwas, und da konnte man durchaus von einem Körper sprechen.
Nur zeigte er den nicht gern. Er war auch nie gleich, denn der Umwelt-Dämon passte sich seiner Umgebung an.
In diesem Fall gehörte ihm der Friedhof. Das bekam ich zu spüren, als sich unter meinen Füßen der Boden bewegte. Ich spürte die Wellenbewegungen. Ein Geräusch hörte ich nicht. Kein Donnern oder Grummeln, wie es bei einem Vulkanausbruch der Fall gewesen wäre: Diese Wellenbewegungen liefen völlig lautlos ab, und es gab nur einen, der dafür verantwortlich war.
Mandragoro wollte mir seine Stärke demonstrieren, und das geschah auf eine Weise, die mir gar nicht gefiel. Plötzlich fühlte ich mich in einer Falle, denn die Wellenbewegungen erfassten auch die Grabsteine und brachten sie ins Wanken. Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, wann sie umkippten.
Für mich wurde es Zeit, dass ich mir einen günstigeren Standort aussuchte. Auf keinen Fall wollte ich, dass mir irgendwelche Grabsteine auf die Füße oder gegen die Beine fielen. Da war es schon besser, wenn ich auswich.
Viel Platz hatte ich nicht. Unter anderem schien sich die Beschaffenheit des Bodens verändert zu haben, denn er kam mir nun klebrig vor, als wollte er mich festhalten.
Ich hatte Glück und schaffte es, zur Seite zu gehen. Genau zum richtigen Zeitpunk, denn ein nahe stehender Grabstein kippte um, und er hätte mich bestimmt erwischt.
»Was soll das?« rief ich dem Gesicht entgegen. »Willst du mir die Knochen brechen?«
Mandragoro lachte dumpf. Seine Antwort hörte ich wenig später.
»Du sollst erleben, zu was ich in der Lage bin mir ganz allein gehört der Friedhof und auch das, was unter ihm liegt. Ich bin sein Herr. Ich herrsche über die Toten, über die Geister und ebenfalls über die Körper…«
Was das letzte Wort bedeutete, das erlebte ich Sekunden später am eigenen Leib. Von unten her wurde die Erde aufgewühlt, und wieder war kein Rumoren oder Grummeln zu hören, aber es erschien das, was im Boden gelegen hatte.
Zwei Leichen schaufelten sich zugleich aus der Tiefe hervor. Die Körper waren noch nicht vollständig verwest. Zwar sah ich schmutzige Knochen, an denen der Lehm klebte, aber ich sah noch mehr.
Da hing an den Knochen das alte Fleisch, das seine gesunde Farbe längst verloren hatte. Es sah einfach Ekel erregend aus.
Auch die anderen Steine wackelten. Mandragoro machte sich mit mir einen makabren Spaß, und ich musste verdammt achtgeben, dass mir nicht noch ein Stein auf die Knochen kippte.
Ich zog mich noch weiter zurück. Bis zum Rand des Gräberfelds konnte ich kommen. Da stand nur ein Grabstein in meiner Nähe, aber der blieb auch nicht stehen, weil er plötzlich einen Stoß erhielt, aber zum Glück in eine andere Richtung kippte. Dafür
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