1493 - Das Gefängnis der Kosmokratin
einem tönernen, kalebassenförmigen Gefäß wieder zum Vorschein. Testare war inzwischen Ellert gefolgt und tauchte kurz danach mit einem Tablett voller Becher auf. Gesil hatte die Kalebasse geöffnet. Goldener Wein perlte in die primitiven Gefäße. Gesil sah auf. „Ich nehme nicht an, daß dein Begleiter mit uns trinken möchte", sagte sie. „Trinkt ihr", antwortete der Nakk. „Meine Nahrung ist von anderer Be: schaffenheit."
Ernst Ellert kam aus dem angrenzenden Raum mit Tellern und Platten, auf denen sich grobkörniges Brot, Butter und kalte Fleischstücke häuften, Testare war noch einmal in die Küche geeilt und kehrte mit mehreren Fäßchen zurück, in denen sich verschiedene Gewürze befanden. „Es geht uns, wie gesagt, nicht schlecht", erklärte Ellert im Tonfall eines Menschen, der meint, sich fur etwas entschuldigen zü müssen. „Mit den Cantaro, die sie hier als Aufpasser eingesetzt haben, kommen wir gut zurecht."
„Sie", wiederholte Alaska Saedelaere. „Wer >sie"
„Wer auch immer über den Cantaro steht", antwortete Ellert, ein wenig verwundert. „In all den Jahren haben wir nichts darüber herausfmden können. Ich glaube, die Cantaro selbst wissen nicht, von wem sie ihre Befehle erhalten."
„In all den Jahren", sagte Alaska. „Wie lange seid ihr schon hier?"
„Gesil kam als erste", erwiderte Testare voller Eifer, froh darüber, endlich ein Thema gefunden zu haben, über das man sich unverfänglich auslassen konnte. „Ich war kurz hinter ihr. Sie nahmen mir alles ab, was ich an technischem Gerät bei mir trug. Ich bin nicht sicher, wie lang der Tag auf dieser Welt ist, aber er ist sicherlich nicht kürzer als zwanzig und nicht länger als dreißig Stunden. In dem Zimmer, in dem ich schlafe, habe ich die Anzahl der Tage vermerkt"
„Zeigst du es mir?" fragte Alaska. „Gewiß doch. Komm mit!"
Sie durchquerten die Küche, die mit primitiven Utensilien ausgestattet war. Im Hintergrund des Küchenraumes gab es drei Türen. Testare öffnete eine davon. Alaska blickte erschüttert in einen langgestreckten, schmalen Raum, der als einzigen Einrichtungsgegenstand eine aus Aststücken gefertigte Liege enthielt, auf der eine aus sackleinenähnlichem Material gefertigte Decke über ein klumpiges Kissen drapiert war.
Testare nahm die Dürftigkeit der Ausstattung nicht zur Kenntnis. Er war daran gewöhnt. Er wies auf die weißgekalkte Wand über der Liege. „Hier habe ich Striche gemacht", sagte er. „Einen für jeden Tag."
Alaska nahm die Striche in Augenschein. Sie waren kräftig, wahrscheinlich mit einem starken Messer angebracht. Unter dem Kalk kam der Lehm zum Vorschein, aus dem die Wand gefertigt war. Er sah ein ganzes Heer von Strichen. „Wie viele sind es?" fragte er. „Seit heute morgen? Eintausendzweiunddreißig", antwortete Testare.
Alaska sah den Freund nachdenklich an. Er hatte bei ihrer letzten Begegnung - mein Gott, wie lange war das schon her! - festgestellt, daß Testare, wiewohl er von gedrungenerer, stämmigerer Gestalt war, das Gesicht nach dem seinen gefonht hatte. Er war zu lange das Fragment in Alaska Saedelaeres Körper gewesen, als daß er sich an die eigene Identität hätte erinnern können. Als er in den Körper des Barkoniden schlüpfte, hatte er das maskenhafte Gesicht des Scheintoten belebt, indem er üim die Miene dessen aufprägte, mit dem er durch eine Laune des Schicksals Jahrhunderte hindurch verbunden gewesen war.
Er sieht aus wie mein Bruder, dachte Alaska.
Dann sagte er: „Wann kamst du nach Uxbataan?"
„Wann kam ich wohinl" fragte Testare. „Uxbataan. Das ist der Name, den der Nakk dieser Welt gegeben hat."
Testare dachte ein paar Sekunden lang nach. Dann wies er auf die Wand. „Da siehst du's", antwortete er. „So lange bin ich hier."
„So meine ich es nicht. Welches Jahr war es, als du hierherkamst?"
„Anfang vierhunderteinundneunzig. Warum?"
„Weißt du, was man heute schreibt?"
Testare antwortete nicht. Er schien zu ahnen, daß ihm eine Eröffnung bevorstand, än der er schwer zu schlukken haben würde. „Eintausendneunundachtzig", sagte Alaska.
Er sah, wie das Gesicht des Freundes grau wurde. Die Wangen sanken ein. Die Lider schlossen sich, und Tränen quollen darunter hervor.
*
Gesil behielt recht: Der Wein löste die Zungen. Becher um Becher wurde geleert. Testare hatte längst bekanntgegeben, daß in der Welt „draußen" inzwischen 600 Jahre vergangen waren, wogegen man in Gelodaar meinte, man sei erst seit
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