1504 - Mordgeschichten
zusammen und huschten von einer Seite zur anderen. Wie eine Fahne, die geschwenkt wurde. Aber das war für uns nicht interessant, denn es gab nicht nur das reine Feuer.
In der Mitte tanzte der böse Engel.
Aaron war zu einem Teil des Feuers geworden. Seine dunkle Gestalt hob sich deutlich ab. Noch immer war kein Gesicht zu erkennen, das hätte verbrennen können. Es gab nach wie vor nur die Kutte, die nicht mehr aus Stoff bestand, sondern aus Feuer, deren Zungen zuckend und sich drehend von unten nach oben stießen.
Das Feuer und der böse Engel, der versuchte, das Manuskript zu retten, waren zu einer Einheit geworden.
Wie schon seit uralter Zeit gehörte das Feuer neben dem Wasser zu den stärksten Naturelementen. Es konnte wärmen, es gab Licht, aber es war auch in der Lage zu zerstören.
Und genau das geschah hier vor unseren Augen. Viele der Manuskriptseiten waren bereits zu Asche zerfallen. Sie wurden vom Wind ergriffen, der die federleichten Reste davonwirbelte.
Er war noch da!
Aber Aaron musste vergehen. Die Flammen hatten auch ihn ergriffen.
Sie hatten einen heißen Vorhang um ihn gelegt, und diese Macht zerstörte die Gestalt. Es gab auch keine Hände mehr, denn sie waren längst als verkohlte Stücke abgefallen.
Und der Geist?
Der verbrannte nicht, wurde aber vertrieben, denn die Kapuze blieb bis zum Schluss bestehen, und einige Flammenzungen hatten es mit ihren Spitzen geschafft, in die eigentliche Leere des Gesichts hineinzugreifen.
War da doch etwas?
Es kam uns so vor, als hätten wir darin einen festen Umriss gesehen.
Aber das Feuer und der Rauch nahmen uns die Sicht, sodass wir schließlich nur zuschauten, wie auch die letzten Seiten von den Flammen gefressen wurden und als Asche zurückblieben.
Wenig später sank das Feuer zusammen. Auch der uns störende Rauch verflüchtigte sich. Die Sicht auf den Grill wurde wieder frei.
Es gab die Asche, aber die war durch den Rost gefallen und hatte sich zu der anderen, der kalten, gesellt, die schon seit einigen Monaten dort lag, wenn nicht noch länger.
Mike Raven wandte sich ab. Er sagte kein Wort zu uns, sondern stolperte mit unsicheren Schritten dem Haus entgegen.
»So kann es kommen«, sagte Suko.
»Aber nicht bei allen Autoren, und auch nicht bei denen, die Horrorromane schreiben. Nicht jeder trifft mit seinen Ideen schließlich den Nerv eines Dämons.«
»Zum Glück. Sonst würde uns viel Spannendes entgehen.«
»Du sagst es, mein Freund…«
Auch wir gingen wieder zurück ins Haus. Als wir es betraten, hörten wir aus der Küche das Stöhnen. Dort saß Mike Raven am Tisch und umklammerte eine Flasche Whiskey.
»Wollen Sie auch einen Schluck?«
»Nein, nein«, lehnte ich ab. »Trinken Sie ruhig.«
»Ja, das brauche ich jetzt.« Er setzte die Flasche an. Nach einem kräftigen Guss in die Kehle stellte er sie wieder auf den Tisch, ohne sie loszulassen. Seinem Blick sahen wir an, dass er über etwas Bestimmtes nachdachte.
»Worüber machen Sie sich Gedanken?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich mal auf Aarons Seite gestanden habe. Ob bewusst oder unbewusst. Ich fühle mich auch schuldig, und ich glaube nicht, dass ich noch weiterhin schreiben werde.«
»Warten Sie erst mal ab«, sagte Suko. »Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Ja, richtig. Aber ich denke nicht, dass ich jemals wieder Horrorgeschichten schreiben werde.«
Wir schauten uns an. Suko hob die Schultern, und ich sagte: »Das können wir sogar gut verstehen. Aber das ist einzig und allein Ihre Sache, Mr Raven.«
Er nickte. »Und wenn mein Verleger anruft, werde ich ihm sagen, dass er zur Hölle fahren soll. Da kann er sich dann seine eigenen Ideen holen und sich die Geschichten selbst schreiben.«
Er hob die Flasche an.
»In diesem Sinne - cheers…«
ENDE
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