1505 - Dorina, die Friedensstifterin
ganzes Leben lang."
Virram hob den Kopf. Seine verkrampfte Haltung löste sich. Er lächelte. „Ja", sagte er versonnen, und sein Blick war in die Ferne gerichtet. „Die Felder. Sie sind wunderschön. Ich hatte es fast vergessen. Ich werde dorthin zurückkehren."
Schon eine Stunde später war er fort.
Natürlich wußte Garyo, daß Dorina dieses Ereignis noch immer nicht verkraftet hatte. Es war ein Schock für sie gewesen.
Zum erstenmal in ihrem Leben war sie mit einem Aspekt des Talents konfrontiert worden, der weder in den Schriften, noch im Unterricht jemals erwähnt wurde.
Einem häßlichen, bösen, gewalttätigen Aspekt.
Dorina Vaccer war durchaus nicht zu jung, um zu wissen, daß jedes Ding seine zwei Seiten hatte.
Aber niemals hatte sie das Talent mit derartigen Dingen in Verbindung gebracht. Und niemals hatte sie geglaubt, daß ein Schlichter - noch dazu dieser Schlichter - sich dazu bereitfinden könnte, etwas so Grauenhaftes zu tun wie das, was Garyo mit Virram gemacht hatte.
Virram hatte große Schuld auf sich geladen. Dorina wußte das und akzeptierte es.
Er hatte zwei Leben zerstört.
Und Garyo?
Garyo hatte Virrams Leben zerstört.
Konnte das richtig sein? Ließ sich das überhaupt mit der linguidischen Auffassung von Recht und Gerechtigkeit vereinbaren?
Wenn Garyo es mit Virram gemacht hatte - konnte er es dann nicht auch mit anderen tun? Immer wieder, jederzeit und an jedem Ort?
Niemand konnte es kontrollieren. Wen es traf, der konnte sich hinterher nicht einmal mehr beschweren, wollte dies auch gar nicht tun. Jeder Schlichter traf selbst die Entscheidung darüber, ob er seine Gespräche vor Zeugen führen wollte oder nicht. Niemand konnte ihm in diesem Punkt irgendwelche Vorschriften machen.
Und genau das war der Punkt, mit dem Dorina nicht zurechtkommen konnte.
Sie war dabeigewesen. Sie wußte, was Garyo getan hatte. Und sie konnte darüber berichten und das gesamte Gespräch mit allem Drum und Dran bis zur kleinsten Geste hinab wiedergeben.
Aber was würde geschehen, wenn sie das tat? Und wem sollte sie berichten?
Andererseits: Warum sollte sie darüber berichten? Garyo konnte nichts Unrechtes getan haben, denn wenn das der Fall gewesen wäre, dann wäre er nicht so dumm gewesen, sich auch noch einen Zeugen für seine Tat zu besorgen. Nachdem er Virram zum Schweigen gebracht hatte, wäre ihm Zeit genug geblieben, um Dorina aus dem Zimmer zu schicken. Und es war auch keineswegs so gewesen, daß er es einfach vergessen hatte. Garyo vergaß nie etwas!
Sie war sich darüber im klaren, daß er ihre Gedankengänge kannte. Die ganze Zeit hindurch, seit diesem Zwischenfall, hatte sie nur noch bei ihm Unterricht gehabt. Er ließ sie kaum noch aus den Augen, beobachtete sie, wartete auf irgend etwas.
Und sie wußte nicht, worauf.
Vielleicht war es ganz gut, wenn sie jetzt erst mal für ein paar Tage aus allem herauskam. Sie wußte, daß es auf der Farm keine großen Feierlichkeiten geben würde. Sie würde also genug Ruhe finden, um über alles nachzudenken. Und zwar ohne Garyo.
*
Alle, die zur Farm gehörten, kamen, um Dorina zu begrüßen. Nur einer fehlte: Das war der Sluck.
Sie suchte ihn draußen im Garten, fand ihn aber nicht. „Er ist alt geworden", sagte Warna. „Seine Ohren sind nicht mehr so scharf wie früher. Aber er verbringt die Nächte immer in deinem Zimmer. Er wird sich bald einfinden."
Sie wartete auf ihn, und gegen Mitternacht kam er die Leiter herauf. Er begrüßte Dorina mit gewohnter Zärtlichkeit. Sie streichelte ihn und war erschrocken darüber, wie mager er geworden war.
Und wie müde.
Er schlief unter ihren Händen ein. Es war ein Schlaf, aus dem er nie wieder erwachen würde.
Im Morgengrauen, als alle anderen noch schliefen, trug sie ihn den Hügel hinauf und begrub ihn in der Nähe des Kima-Strauches. Dann setzte sie sich auf einen Stein und wartete auf den Sonnenaufgang.
Aber die Sonne blieb hinter dichten Wolken verborgen. Die Blüten des Kima-Strauches, der schon fast zu einem Baum geworden war, wollten sich nicht öffnen, weder am Morgen, noch am Nachmittag. „Das ist ein schlechtes Zeichen", sagte Warna bedrückt. „Nein", erwiderte Dorina. „Es liegt an mir."
„Rede doch nicht immer so dummes Zeug!" brummte Segur unwillig.
Sie wandte sich wortlos ab.
Auf der Farm schien nichts mehr so zu sein, wie Dorina es von früher her in Erinnerung hatte.
Gatour war weggezogen - sein Zustand hatte sich normalisiert, und er wohnte jetzt in
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