1509 - Standbild des Grauens
spürte sehr deutlich, wie die Spitzen der beiden Zähne tief in seine Haut eindrangen.
Sie schien wie Papier gerissen zu sein. Was sich darunter befand, hatte endlich freie Bahn, um in die Höhe zu sprudeln, denn die Schlagader war durch den Biss zerrissen worden. Das Blut schoss in den Mund der Saugerin, und sie genoss es ganz offensichtlich.
Lucius hörte das Schmatzen und Schlürfen, Ausdruck einer wilden Gier, denn zu lange hatte sie darauf warten müssen.
Der Mann lag unter ihr. Mit einer Hand drückte sie ihn gegen den Boden.
Zusätzlich hatte sie ihr rechtes Knie in den unteren Teil seines Körpers gestemmt, und bei jedem Saugen zuckte der Kopf der Wiedergängerin hoch und nieder, ohne dass sich dabei die Lippen vom Hals lösten.
Myrna wollte ihr Opfer leer trinken, und das bis auf den allerletzten Tropfen…
***
Justine Cavallo war die Beobachterin im Hintergrund. Alles hatte sie mit angesehen, und es war so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Dass Lucius Clay in diesem Moment sein menschliches Leben verlor, spielte für sie keine Rolle - bis zu einem gewissen Zeitpunkt, als sich ihre Blicke an dem Bild festsaugten und ihr bewusst wurde, was dort geschah.
Da lag jemand auf einem Menschen und saugte ihn leer!
Und sie schaute zu.
Die Cavallo war eine Vampirin. Sie ernährte sich von Blut, auch wenn sie diesen Hunger oft unter Kontrolle halten konnte. Was sie hier allerdings mit ansehen musste, dass ging nicht so spurlos an ihr vorüber. Sie hatte das Blut zwar nicht sprudeln oder spritzen sehen, doch der Geruch war vorhanden. Er wehte zu ihr herüber und bewirkte die wahnsinnige Lust auf den Lebenssaft.
Justine stieß einen Fauchlaut aus.
Dann schüttelte sie den Kopf.
Einen Moment später zischte sie: »Nein, so haben wir nicht gewettet. Das Blut werden wir uns teilen, meine Süße!« Nach diesem Versprechen hetzte sie mit langen Schritten los…
Lucius hatte sich noch nie Gedanken über den Tod gemacht. Er war einfach zu jung dafür. Nun aber wusste er, dass er sterben würde, und er wunderte sich darüber, wie klar sein Denken noch funktionierte.
Ich sterbe! Aber ich sterbe anders. Ich werde nach meinem normalen Tod noch existieren, ohne dass ich Atem holen muss oder auch Hunger, Durst und Schmerzen verspüren werde. Ich werde weiterhin leben können. Ich liebe die Nächte. Ich werde stets auf der Jagd nach Menschenblut sein, um weiterhin existieren zu können.
Alles wird sich um das Blut der Menschen drehen. Um Blut - Blut - Blut…
Seine Gedanken sackten weg. Er selbst konnte nichts dagegen unternehmen, die bleierne Müdigkeit zwang ihn dazu. Er spürte den Druck auf seinem Körper und auch am Hals.
Lucius lag ganz still. Seine Augen hielt er weit geöffnet und schaute so zum Himmel. Er sah die Wolken wie im Nebel verschwinden und hörte plötzlich einen wütenden Ruf. An seiner linken Seite bewegte sich etwas.
Er wurde den Druck los.
Wütende Schreie gellten in seinen Ohren. Er sah etwas nach oben steigen wie einen Schatten, und er hörte auch die quiekenden Schreie.
Für den Bruchteil einer Sekunde erschien Myrnas Gesicht in seinem Blickfeld. Er sah sogar den blutverschmierten Mund, dann hörte er ein Klatschen, und Myrna war verschwunden.
War das die Rettung in letzter Sekunde? Nur schwerfällig gingen die Gedanken durch seinen Kopf. Lucius kam sich vor, als wäre er nur noch die Hälfte seiner selbst.
Auf die Beine kommen würde er nicht mehr. Zumindest nicht aus eigener Kraft. Er lag auf dem Rücken und befand sich in einer Art Schwebezustand. Dabei wusste er nicht mal, ob er noch fähig war, als Mensch weiterleben zu können.
Es war alles anders in ihm geworden.
Er konnte zwar noch denken, aber er fühlte sich anders als sonst. Seine aufgerissene linke Halsseite schmerzte auch nicht mehr.
Und dann erschien die blonde Vampirin. Sie hatte sich Zeit gelassen, aber dann schob sie sich in seinen Blickbereich hinein. Er sah nicht mehr so klar war wie sonst, aber es reichte aus, um die wichtigen Dinge erkennen zu können.
Sie ging neben ihm in die Knie. Mit allen zehn Fingern streichelte sie über seine Brust, und sie hatte die Lippen zu einem kalten Lächeln so in die Breite gezogen, dass auch die beiden langen Zähne zum Vorschein kamen. Lucius sah es als Omen an. Der Begriff Rettung existierte bei ihm nicht mehr. Er war alles anders geworden. Auch Justine existierte dadurch, das Blut anderer Menschen zu trinken, selbst wenn sie sich bisher nicht so benommen hatte,
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