1510 - Der Hexenbrunnen
schmales, etwas längliches Gesicht mit vorstehenden Wangenknochen, ein etwas breiter Mund und ein leicht eckiges Kinn. Die schmale Nase passte ebenfalls dazu, und die Augen saßen leicht schräg, wobei die Farbe der Pupillen für Justine nicht zu erkennen war.
Lucy war mit einem dunklen Umhang bekleidet, der wohl ein Kleid sein sollte.
Jedenfalls hatte es an der Vorderseite Knöpfe, die nicht alle geschlossen waren. So schimmerte helles Fleisch durch die Lücken. Sie war wohl nackt unter dem Kleid.
Lucy lachte leise, bevor die flüsterte: »Du hast Glück gehabt, Blondie. Verdammtes Glück. Dir ist anscheinend nichts passiert. Du scheinst okay zu sein. Für uns genau richtig. Und jetzt sag was.«
Justine wurde zur Schauspielerin, als sie flüsterte: »Ich - ich - kann mich kaum bewegen, verdammt. Im Rücken - im Rücken, da ist…«
»Das weiß ich, meine Liebe. Aber das ist alles nebensächlich. Es kommt ganz auf dich an, verstehst du?«
»Nein.«
»Keine Sorge, das wirst du noch. Bald, sehr bald. Kann sein, dass du dich dann freuen wirst, endlich deine Bestimmung gefunden zu haben. Aber erst verlassen wir den Wald.«
Die Blutsaugerin hatte alles gehört. Ihr war kein einziges Wort entgangen. Aber sie spürte auch etwas anderes, und das hatte sie die ganze Zeit über nicht losgelassen.
Hungrig war sie.
Blut wollte sie.
Und trotzdem erlebte sie in ihrem Innern so etwas wie eine Warnung.
Lucy und die anderen Frauen waren für sie nicht mit normalen Menschen zu vergleichen. Zumindest Lucys Blut roch anders. Es widerte sie nicht an, aber sie wollte auch wissen, ob es anders schmeckte, und viel Zeit lassen mit einem Versuch konnte sie sich nicht.
»Komm, wir werden…«
»Ja, ich komme mit.«
Dass die verunglückte Frau plötzlich schon wieder so normal hatte sprechen können, wunderte Lucy schon. Sie wollte dazu etwas sagen, was sie aber nicht mehr schaffte, denn Justine hatte sich dazu entschlossen, ihr wahres Gesicht zu zeigen, und das war für Lucy völlig überraschend.
Mit einer blitzschnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung riss die blonde Bestie ihre Arme hoch. Die Hände erwischten die völlig ahnungslose Lucy. Mit einer routinierten Drehung wurde sie in die richtige Stellung gebracht, und dann war es nur noch eine Sache von Sekunden.
Das Vorschnellen des Kopfes und der folgende Biss, als zwei spitze Zähne in die Halshaut hackten…
Justine Cavallo hatte schon oft zugebissen. Für sie war es Routine, das Blut der Menschen zu trinken, und damit rechnete sie auch jetzt. Sie wurde nicht enttäuscht. Die Zähne rissen die Haut auf. Zwei Löcher entstanden. Zielsicher hatte sie die Schlagader getroffen, aus ihr sprudelte das Blut. In einer dünnen Fontäne schoss es in den weit geöffneten Mund der blonden Bestie, die nicht lange zögerte und den Lebenssaft schluckte.
Nur einmal, dann nicht mehr.
Justine ließ ihr Opfer los. Sie fluchte wütend und stieß ihr Opfer dann von sich. Sie rechnete damit, dass die Rothaarige zu Boden fallen würde, was nicht geschah, denn Lucy hatte Glück, dass ein Baumstamm sie aufhielt.
Was war das nur?
Justine setzte nicht nach, wie es eigentlich hätte sein müssen. Sie stand auf dem Fleck und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war verzogen, und sie tat etwas, was sie nach einem Biss noch nie getan hatte.
Sie spie aus!
Es war kein Speichel, der da, auf den Waldboden klatschte, sondern die Flüssigkeit, die sie aus der Ader der Frau gesaugt hatte.
Das war kein Blut! Jedenfalls kein normales. Sie hatte so etwas noch nie erlebt. Es musste bitter schmeckendes Gift sein, das sie geschluckt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Sie spie noch mal aus, würgte auch und hielt den Kopf gesenkt. Mit dieser Enttäuschung musste sie erst mal fertig werden, was seine Zeit dauerte, und sie nahm aus den Augenwinkeln die huschende Bewegung wahr.
Beim Hochschauen sah sie Lucy weglaufen. Es glich einer Flucht. Wahrscheinlich war diese Person ebenso überrascht wie Justine, nur auf eine andere Weise.
Die Cavallo blieb stehen. Sie hatte nur für einen Moment an eine Verfolgung gedacht, den Gedanken dann allerdings verworfen. Sie wusste ja, wie groß die Unterstützung dieser Lucy war, außerdem kannte sie sich in dieser Gegend nicht aus. Ganz im Gegensatz zu Lucy und ihren Freundinnen, die längst das Weite gesucht hatten.
Justine blieb zurück. Sie hörte die letzten Geräusche verklingen.
Was lief hier eigentlich ab? Diese Frage stellte sich die Vampirin, und sie war nicht in der
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