156 - Die Rache der Schattenfrau
sich nicht mehr, als sie stehenblieben. Ihr Summen verstummte. Einen Moment blieben sie noch dicht beieinander, dann traten einzelne Frauen zur Seite, bis nur noch das Mädchen in dem altertümlichen Kleid und Beatha Wolf in ihrem schwarzen Umhang am Tatort standen, beleuchtet vom kalten Licht einer Neonlampe im Schaufenster eines Geschäfts.
Rogalski hielt den Atem an.
Langsam hob er seine Kamera. Deutlich spürte er, daß gleich etwas geschehen mußte.
Ein kalter Hauch wehte plötzlich über den Prinzipalmarkt. Rogalski erschauerte. Seine kleinen hellen Augen weiteten sich.
Wie aus dem Boden gestampft, stand plötzlich eine dunkle Gestalt drei Schritte vor Beatha Wolf und dem Mädchen im altertümlichen Kleid.
Rogalski konnte gerade noch einen erschreckten Ausruf zurückhalten. Er sah, daß die Gestalt keinen Kopf hatte!
Der dunkle Umhang bewegte sich. Ein knöcherner Arm mit einem Schwert schien aus dem Stoff hervorzusteigen. Dann waren wispernde Stimmen da, und die kopflose Gestalt begann, hin und her zu springen und mit dem Schwert nach den jungen Frauen zu schlagen, die sich hinter den Säulen des Bogengangs versteckten.
Werner Rogalski war wie gelähmt. Ungläubig starrte er auf das unfaßbare Geschehen.
Die Erzählung ihres Schicksals hatte Elisabeth Wandscherer sehr erregt. Die Geburt der Satansbrut, das Versprechen, das sie Isolde gegeben und nicht erfüllt hatte, ihr eigener Tod - das alles wühlte sie so sehr auf, daß der Haß auf Beatha und die Nachfahren der Königsfrauen ins Unermeßliche wuchs. Sie hatte die Dunkelheit nicht erwarten können. Unruhig war sie in ihr Grab zurückgestiegen, das sie vor ein paar Tagen verlassen hatte, um mit ihrer Rache zu beginnen. Sie bereitete alles für ihren Geliebten Christoph von Waldeck vor, mit dem sie im Tod vereint sein wollte.
Sie wußte genau, daß die Satansbrut Isoldes sich in dem Gewölbe unter dem Knipperdollinckschen Haus aufhielt, doch sie fürchtete sich, dorthin zu gehen. Einmal hatte sie sich dem Gewölbe durch den alten geheimen Gang genähert. Sie hatte die Ausstrahlung des Dämons gespürt, der Beatha in der vergangenen Nacht davor bewahrt hatte, von ihr geköpft zu werden.
Sie lauerte im Schatten der St. Lambertikirche. Über ihr hingen die drei Eisenkörbe, in denen die Leichname Jan van Leydens, Krechtings und Knipperdollincks zur Schau gestellt worden waren. Elisabeth zuckte zusammen.
Sie hatte die Bewegung am Ende des Prinzipalmarkts wahrgenommen. Obwohl die Entfernung fast zweihundert Meter betrug, wußte sie sofort, daß sich dort ihre Feindinnen näherten.
Erregung packte sie. Sie fragte sich nicht, wieso sie alle auf einmal auf dem Prinzipalmarkt erschienen. Der Haß in ihr war so stark, daß kein anderer Gedanke in ihr Platz hatte.
Zitternd wartete sie, bis die Frauen den Ort erreicht hatten, an dem sie damals um den Leichnam Elisabeth Wandscherers herumgetanzt waren. Sie hob ihren Kopf vom Halsstumpf und verbarg ihn unter dem weiten Umhang. Dann packte sie das Sendschwert fester. Die Konturen ihrer Gestalt schienen zu flimmern, als sie sich in Bewegung setzte.
Urplötzlich tauchte sie vor dem Bogengang auf, unter dem die Satansbrut Beatha und eine andere junge Frau standen.
Elisabeth glaubte Margaretha Moderson zu erkennen, die ihren Leichnam bespuckt hatte. Ihr Arm sprang mit dem Sendschwert aus dem Umhang hervor. Sie wollte ausholen, doch in diesem Moment vernahm sie die Stimme Engele Kerckerincks.
„Ich bin hier, Elisabeth!"
Sie wirbelte herum. Engele Kerckerincks Gesicht verschwand hinter einer Säule des Bogengangs. Andere Stimmen wisperten.
Sie hörte Clara Knipperdollinck, Anna Laurentz, Christina Rodde, Grete Groll…
Sie schrie zornig auf. Ihre Stimme ließ die Jüngerinnen Beatha Wolfs erschauern. Trotz des dämonischen Banns, mit dem Beatha Wolf sie belegt hatte, begannen sie, die tödliche Gefahr zu begreifen, in der sie schwebten.
Elisabeth Wandscherer hieb mit dem Sendschwert um sich. Die Klinge traf eine der Steinsäulen und hieb Funken heraus.
Überall waren die Stimmen der Königsfrauen. Sie vereinigten sich in Elisabeths Kopf zu einem Crescendo, das ihre Schädeldecke zu sprengen drohte.
Sie sah Margaretha Moderson vor sich. Das Sendschwert fauchte durch die Luft. Es verfehlte die schreiende Frau nur knapp.
Blitze waren auf einmal in der Nacht.
Elisabeth warf sich herum. Ihr Umhang klaffte auf, und ihre tief in den Höhlen liegenden Augen wurden von grellen Lichtreflexen geblendet. Sie
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