156 - Die Rache der Schattenfrau
wehrte ihre Hände ab.
Die anderen Mädchen umringten Lydia. Einige begannen, ihren nackten Leib mit einer übelriechenden Tinktur einzureiben. Mit einem scharfen Messer wurden ihr die Haare gestutzt.
Beatha schaute nicht hin. Ihr Blick war auf die Ecke gerichtet, an der ihr Geburtslager gestanden hatte. Sie erinnerte sich genau daran, wie die Frau, in deren Leib sie gewachsen war, sie mit dem Dolch hatte töten wollen. Woher die Erinnerung plötzlich kam, wußte sie nicht.
Ihre Augen weiteten sich. Sie sah die zweite Frau. Eine hohle Stimme flüsterte in ihrem Kopf: „Ich habe dich nicht getötet, obwohl ich es Isolde versprach. Doch jetzt werde ich mein Versprechen einlösen!"
Angst erfüllte sie, doch sie war nicht so stark wie ihr Haß auf die Mörder ihres Vaters. Sie zwang sich, die Stimme aus ihrem Kopf zu verbannen. Mehr als fünf Stunden kauerte sie vor dem Altar. Wie aus einem tiefen Schlaf erwachte sie.
Die Mädchen hatten sich angekleidet.
Lydia Moderson trug ein Gewand aus der Wiedertäuferzeit.
Die Mädchen traten auf Beatha zu. Sie hielten ihren schwarzen Umhang über den Armen. Die aufgeplatzten Blasen auf ihrem Körper schienen sie nicht zu sehen.
Beatha erhob sich.
Die Mädchen legten ihr den Umhang über die nackten Schultern.
„Wir sind bereit, Herrin", murmelte Hertha Bokelsen.
Die Zeit brannte Dorian unter den Nägeln. Während Don Chapman mit dem einen Kommandostab einen Gang durch den Lehm zu bohren versuchte, war es ihm gelungen, zwei weitere Quader aus der Mauer zu lösen.
Sie bohrten sich weiter durch den Lehm.
Fast fünf Meter hatten sie schon geschafft.
Coco hockte mit Phillip und Christoph von Waldeck im Verlies. Coco hatte Dorian ablösen wollen, doch er hatte abgelehnt.
Der Puppenmann richtete sich plötzlich auf und starrte Dorian im Licht seiner Stablampe, die sie in die Lehmwand gesteckt hatten, an.
„Hörst du was?" keuchte er.
Dorian lauschte.
Ja, jetzt vernahm er es auch. Es war wie das Rauschen eines Baches.
Sie arbeiteten wie die Besessenen weiter. Dorian stieß seinen Kommandostab tief in den Lehm. Ein Ruck ging durch sein Handgelenk. Er war auf Widerstand gestoßen. Rasch schabte er den Lehm weg. Er stieß einen Laut der Genugtuung aus, als er die Steine einer Mauer vor sich sah.
Es dauerte noch eine halbe Stunde, dann hatten sie ein etwa ein Quadratmeter großes Stück der Mauer freigelegt.
Dorian kratzte in den Mörtelritzen mit der Spitze des Kommandostabs. Die Mauer war dick, doch es war nicht schwierig, die Ziegelsteine zu lösen.
Das Rauschen wurde stärker.
Dorian begriff, daß sie auf eine Kanalisationsröhre gestoßen sein mußten. Er brach immer mehr Steine heraus. Dann stieß er durch.
Ein widerwärtiger Gestank schlug ihm entgegen. Er störte sich nicht daran. Jetzt, da er ein kleines Loch geschaffen hatte, war es nicht schwer, es zu vergrößern. Innerhalb von Minuten war es so groß, daß der Puppenmann hindurchkriechen konnte.
„Ein Abwasserkanal!" keuchte Don.
Dorian zog ihn zurück. In der Kanalisation gab es Ratten. Und sie waren für einen kleinen Mann wie Don Chapman lebensgefährlich.
Er brach den Rest der Steine heraus. Don rief die anderen, die durch den Lehmgang krochen.
Dorian stieg durch das Loch und ließ sich in die stinkende Brühe hinab, die den Boden der Röhre knöchelhoch bedeckte. Er zog Don aus dem Loch, der sich an seinem Jackett festkrallte. Coco reichte ihm seinen Mantel, den er rasch überzog, so daß der Puppenmann in die Innentasche kriechen konnte. Dann half er Phillip und Christoph von Waldeck heraus. Coco schlüpfte schon durch das Loch, ehe Dorian ihr die Hand reichen konnte.
Sie verzog die Nase.
„Wenn wir hier rauskommen, müssen wir uns sofort andere Sachen besorgen", sagte sie. „Man wird uns hundert Meter gegen den Wind riechen."
Dorian war es gleich. Er knipste sein Gasfeuerzeug an und hielt die kleine Flamme über das Zifferblatt seiner Uhr. Er erschrak. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Hoffentlich hatten sie nicht zu lange dafür gebraucht, sich den Tunnel in die Freiheit zu graben.
Dorian entdeckte eine eiserne Leiter in der Mauer. Er nahm Don die kleine Taschenlampe aus der Hand und leuchtete nach oben. Dort gab es einen Kanaldeckel.
Er faßte nach den Sprossen und kletterte hinauf. Der eiserne Deckel war schwer. Er mußte sich mit dem Rücken dagegenstemmen, um ihn anheben zu können. Keuchend schob er ihn zur Seite. Das Scheppern auf dem Pflaster hallte laut durch die Stille
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