1561 - Wächterin der Nacht
eine weiße Leinwand aufgebaut, vor der Judy entlang laufen musste.
Wolken waren in der Natur vorhanden, wurden später allerdings auch digitalisiert.
»Du bist auch okay?«
Judy nickte. Sie hatte die Lippen noch zusammengekniffen. Außerdem fror sie auf dem Dach.
Ari hob den rechten Arm. Das Zeichen galt ihr.
»Dann Action!«, rief er.
Judy King wusste genau, was sie zu tun hatten. Es war alles abgesprochen und geprobt worden, und so eilte sie mit langen Schritten über das Dach hinweg.
Nicht jeder Mensch konnte so laufen wie sie. Sie war sehr begabt, sodass es wirklich aussah, als würde sie schweben.
Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Jetzt zeigte Judy, dass sie auf Kommando lächeln konnte, und es war ein strahlendes und natürliches Lächeln, als würde sie vor sich etwas ganz Besonderes sehen, auf das sie sich bereits ein Leben lang gefreut hatte.
Die Fotografen folgten ihr. Sie schössen dabei ununterbrochen ihre Bilder. Das hier war kein Spot fürs Fernsehen oder die Kinoleinwand. Judy King würde bald auf unzähligen Plakatwänden zu bewundern sein, in all ihrer Leichtigkeit und Schönheit, wobei sie wie ein ätherisches Wesen leichtfüßig über den Boden glitt. Laut Werbebotschaft würde jede Frau so aussehen und sich so bewegen können, wenn sie die Diät-Produkte einer bestimmten Firma kaufte und sich damit ernährte. Man fühlte sich engelhaft und leicht.
Sie lief an der Leinwand vorbei. Das Lächeln fiel ihr schwer, weil kalte Wind gegen ihren Körper schlug. Aber sie machte ihre Sache gut und lief dann aus.
Ari hatte alles beobachtet. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln. Mochte Judy auch noch so zickig sein, wenn es darauf ankam, war sie voll da.
Er riss die Hände hoch und klatschte, was das Model sah, als es näher kam.
»Na, wie gut war ich?«
»Super!« Er nickte ihr zu. »Du glaubst gar nicht, wie sich die Flügel bewegt haben. Das war klasse. Es hat so ausgesehen, als könntest du fliegen. Willkommen bei den Engeln.«
»Ja, ja, schon gut.« Judy winkte ab. Sie kannte die Lobhudeleien, die in dieser Branche üblich waren. Zumeist blieb es nicht dabei. Dann kam das dicke Ende nach, wenn es hieß, dass man die Szene zur Sicherheit noch mal durchziehen wollte, wobei es oft genug nicht bei einem Mal blieb und sich die Versuche summierten.
»Ich friere, Ari.«
»Kann ich verstehen, Süße, kann ich verstehen. Es ist die Gänsehaut der Engel.«
»Rede doch nicht so einen Stuss. Ich will es hinter mich bringen. Habe ich das?«
»Fast, mein Engel, fast…«
»Was heißt das?«
»Wir ziehen es noch mal durch.« Ari grinste. »Du kennst das ja.«
»Klar, das kenne ich.« Judy nickte heftig. »Wir ziehen es durch, und es bleibt nicht bei dem einen Mal. Immer und immer wieder, wie ich den Job kenne.«
»Nein, nur noch einmal. Du bist fantastisch gewesen, aber ich will nur auf Nummer sicher gehen. Dann bist du erlöst.«
»Und wenn nicht?«
»Denk nicht darüber nach, mein Engel. Das ist schon okay.« Er schmeichelte ihr.
»Schließlich haben wir dich nicht grundlos ausgesucht. Du bist die Beste.«
»Klar, wenn andere nicht da sind.«
»Genau, Engel, genau.« Ari schrie auf, weil Judy ihm gegen das Schienbein getreten hatte. Nicht zu fest, aber er sollte merken, dass sie sich nicht gern auf den Arm nehmen ließ.
Eine Maskenbildnerin wusste, was sie zu tun hatte. Sie lief mit ihrem Schminkkoffer herbei, und der Requisiteur richtete die Flügel, während er einen alten ABBA-Hit vor sich hinsummte.
Sich selbst gegenüber gab Judy King zu, dass sie froh war, den Weg nur noch einmal laufen zu müssen. Sie hatte schon mit mehreren Versuchen gerechnet, aber sie war auch jemand, der von sich überzeugt war. In ihrem Job gehörte sie zur Spitze.
Ein wenig neue Schminke, etwas Puder, dann war die kurze Unterbrechung vorbei.
Auch die Flügel waren gerichtet, und jeder machte sich bereit für den neuen Versuch.
Die Fotografen gaben ihr Zeichen, dass alles in Ordnung war und Judy starten konnte.
»Action!«
Es war wohl Aris Lieblingswort. Das kam daher, weil er früher mal beim Film gearbeitet hatte. Da war er zweiter oder dritter Regisseur gewesen und hatte dieses Wort immer rufen dürfen.
Judy King startete zu ihrem zweiten Versuch.
Die Flügel brauchte sie durch den Mechanismus nicht selbst zu bewegen. Durch den Gegenwind stellten sich die leichten Gebilde hoch, und sogleich hatte sie wieder das Gefühl, über das Dach und auch an der Leinwand vorbei zu
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