1561 - Wächterin der Nacht
Erklärbaren verging.
In diesem Moment gab es die Zeit nicht mehr für sie. Judy ließ sich einfach nur treiben, etwas anderes wollte sie gar nicht.
Der weiche grüne Pullover schmeichelte ihrer Haut. Die schwarze Winterjeans war von innen gefüttert. An den Füßen trug sie die ebenfalls grünen Sneakers.
Sie hätte sich eigentlich wunderbar entspannen können, wäre da nicht die Umgebung gewesen, die sich allmählich veränderte.
Judys Augen standen nicht offen, aber sie merkte trotzdem, dass sich etwas tat. Ihre Nerven begannen zu vibrieren, und der Eindruck, nicht mehr allein zu sein, wurde immer stärker in ihr.
Sie öffnete die Augen.
Der Schreck jagte tief in ihre Glieder.
Vor ihr stand Liliane, und sie hielt mit der rechten Hand den Griff des Schwerts umklammert…
***
Es war ein Bild, das es eigentlich nicht geben konnte, das trotzdem keine Täuschung war. Vor ihr stand die Gestalt, die sie schon auf dem Hoteldach und im Spiegel gesehen hatte.
Judy brachte kein Wort hervor. Ihren Blick konnte sie nicht von dieser ätherischen Gestalt lösen, die nicht nackt war wie oft Engel auf den Bildern. Liliane trug ein langes Kleid, das ihr bis zu den Fußknöcheln reichte. Schuhe trug sie nicht. Eine wie sie musste sich nicht um Kälte oder Hitze sorgen, für den gab es auch keine Hindernisse. Als Judy genauer hinschaute, stellte sie fest, dass die Flügel zwei verschiedene Farben hatten. Einer war dunkel, der andere hell.
Wie bei mir!, dachte Judy.
Aber sie war kein echter Engel gewesen. Man hatte sie zu einer werbewirksamen Engelikone aufbauen wollen, und das schien der anderen Seite nicht zu gefallen.
Erneut schaute sie in die Augen ihrer Besucherin und sah darin einen für sie nicht zu beschreibenden Ausdruck. Was sie als Augen ansah, war klar wie Glas.
Es kam schon einem kleinen Wunder gleich, dass Judy die Kraft fand, ihre Besucherin anzusprechen.
»Was willst du hier? Hat es dir nicht gereicht, was du auf dem Hoteldach angerichtet hast?«
»Ich will dich!«
Eine schlichte Antwort, die Judy erschreckte. Wie kam dieser Engel dazu, etwas von ihr zu wollen? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.
Es gab keine Verbindung zwischen ihnen, und es würde auch nie eine geben.
Das sah Liliane offenbar anders.
»Was soll ich denn bei dir?«
»Ich brauche dich.«
»Und wofür?«
Da lächelte Liliane. »Ich bin die Wächterin der Nacht. Ich schwebe durch die Dunkelheit und sorge dafür, dass sie Toten ungestört in ihren Gräbern liegen können.«
Judy verzog den Mund. Sie hatte jedes Wort genau verstanden, aber den Sinn verstand sie nicht. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was das alles sie angehen sollte, und sie wollte auf keinen Fall, dass sich ihr Leben ändern würde.
Judy tat es nicht bewusst, aber sie schüttelte den Kopf. Fast automatisch gab sie eine Antwort.
»Nein, ich will es nicht. Wir haben nichts gemein. Ich bin nicht wie du. Ich - ich…«
»Doch, das bist du. Wir haben mehr miteinander zu tun, als du es dir vorstellen kannst. Ich bin gekommen, um dich von allem anderen zu befreien. Ich habe dafür gesorgt, dass deine Mannschaft, mit der du gearbeitet hast, ausgeschaltet ist. Jetzt ist der Weg für dich frei. Und wenn du nicht mit mir gehst und an meiner Seite bleibst, werden es deine Freunde büßen!«
Judy erschrak zutiefst.
»Was hast du mit ihnen vor?«, flüsterte sie.
Ihre Finger klammerten sich um die beiden Sessellehnen, als wollten sie diese zerdrücken.
»Muss ich noch deutlicher werden? Ich habe ihnen bisher nur eine Lehre erteilt, aber dabei muss es nicht bleiben. Ich kann auch anders, ganz anders.«
Sie hatte bisher nur indirekt gesprochen. Allmählich jedoch wurde Judy klar, dass Liliane es ernst meinte. Wenn sie nicht gehorchte, würden es ihre Kollegen oder Bekannten zu büßen haben.
»Du - du - willst sie dann töten?«
»Ja, das werde ich.«
Judy schüttelte den Kopf. Ihr Gehirn weigerte sich, diese Antwort zu begreifen. Sie war bisher niemals mit derartigen Dingen konfrontiert worden. Morde kannte sie nur aus dem Fernsehen.
Und jetzt stand jemand vor ihr, die ihr eine derartige Rechnung präsentierte. Das wollte ihr nicht in den Kopf.
»Das kannst du nicht tun.«
»Nicht, wenn du mit mir kommst.«
»Aber wohin willst du mich schleppen?«
»Du musst an meiner Seite bleiben. Ich habe mich so entschieden und dabei bleibt es.«
Judy wäre am liebsten aufgesprungen und weggelaufen. Sie brachte es nicht fertig und flüsterte nur: »Das will ich
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