1561 - Wächterin der Nacht
klang normal und trotzdem anders.
»Man darf mich nicht kopieren, merke dir das. Die Wächterin ist einmalig, hörst du?«
Judy nickte.
»Und merke dir meinen Namen. Ich bin Liliane, und ich werde genau beobachten, was geschieht…«
Sie sagte nichts mehr. Judy rechnete damit, dass jetzt ihr Schwert in Aktion treten würde. Doch das trat nicht ein. Der Engel ließ die Waffe sinken.
Ein Augenpaar konzentrierte sich auf Judys Gesicht. Sie konnte nicht wegschauen.
Die Augen passten zu dem Engel. Sie waren hell und klar wie geschliffene Edelsteine.
Liliane reichte es.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, breitete sie ihre Flügel aus und schwang sich in die Luft.
Judy schaute ihr nach. Mehr konnte sie nicht tun.
Doch es kam der Zeitpunkt, da gaben ihre Beine nach, und sie sackte in die Knie, und bevor sie sich völlig auf dem Dach ausstreckte, begann sie zu schluchzen wie noch nie in ihrem Leben…
***
»Guten Morgen und volle Besetzung«, begrüßte Glenda Perkins Suko und mich, als wir das Vorzimmer betraten und sich mein Blick sofort auf die Kaffeemaschine richtete, denn nach der braunen Brühe gierte ich fast.
Wir hatten uns durch den Verkehr gequält und dabei mehrere Schneeschauer erlebt.
Der Winter schlug noch mal voll zurück. Ich empfand die Temperaturen besonders intensiv, denn mein Körper hatte sich schon auf die wärmere Jahreszeit eingestellt.
»Volle Besetzung?«, fragte Suko.
»Klar, du bist ja wieder da. Zurück aus New York.«
»Ja, mit einigen Problemen.«
»Davon habe ich schon gehört.«
Und ich wusste ebenfalls, wovon Glenda sprach, denn das Finale dieses Falls hatte ich ja selbst miterlebt. Da waren wir auf einen Chinesen namens Hai King getroffen, der sein eigener Ahnherr war und nicht sterben konnte, weil er sich immer wieder regenerierte.
Wir hatten den Ahnenfluch letztendlich aus der Welt geschafft, und auch Suko war wieder normal geworden, was für eine kurze Zeit nicht so ausgesehen hatte.
Er musste sich von Glenda eine Umarmung gefallen lassen.
»Toll, dass wir dich wieder bei uns haben.«
Das war ehrlich gemeint, und ich schenkte mir die erste Tasse Kaffee ein.
»Ich freue mich auch. Es wäre fast ins Auge gegangen. Aber da gab es ja noch Shao, die über sich selbst hinausgewachsen ist. Der Ahnenfluch ist gelöscht, und wir können wieder nach vorn schauen.«
»Das ist gut.«
Glenda hatte die Antwort in einem bestimmten Unterton gegeben, der mich aufmerksam werden ließ.
»Ist was im Busch?«
»Kann sein.«
»Und was?«
Unter ihrem schwarzen Pullover, zu dem sie eine Kette aus roten Holzperlen trug, hoben sich leicht ihre Schultern.
»Ich kann es nicht genau sagen, John, aber ihr werdet zu Sir James müssen, wenn er wieder da ist. Das hat er mir kurz gesagt.«
»Aber du weißt nicht, um was es geht?«
»Nein.«
»Wie hörte sich denn seine Stimme an?«, erkundigte sich Suko.
»Neutral, würde ich sagen.«
»Okay, wir lassen uns überraschen.«
Ich war vor Suko in unserem gemeinsamen Büro, setzte mich hinter den Schreibtisch und streckte meine Beine aus.
Ich sah Suko an, dass er froh war, nach diesem Urlaub in New York, der keiner gewesen war, wieder an seinem Schreibtisch Platz nehmen zu können.
»Hast du keine Idee?«, fragte er mich.
Ich setzte die Tasse ab, aus der ich zwei Schlucke getrunken hatte.
»Bin ich ein Hellseher?«
»Dann würdest du nicht hier hocken.«
»Genau.«
Glenda erschien in der offenen Tür. Sie lehnte sich lässig gegen den Rahmen und fragte wie nebenbei: »Habt ihr eigentlich schon einen Blick in die Zeitungen geworfen?«
»Nein«, sagte ich.
Suko verneinte ebenfalls.
»Dann kläre ich euch mal auf. Da ist etwas geschehen, das durch alle Blätter geht. Auf dem Dach eines Hotels hat es ein Blutbad gegeben. Zum Glück keine Toten, aber jede Menge Verletzte.«
»Ach. Und was ist da passiert?«
»Laut Zeugenaussagen erschien so etwas wie ein Engel und schlug mit einem Schwert wahllos um sich, wobei er zahlreiche Menschen verletzte.«
Ich schaute Suko an, der die Schultern hob, dann wandte ich mich wieder an Glenda.
»Was haben die Leute denn auf dem Dach zu suchen gehabt?«
»Ein Foto-Shooting.«
»Also Werbeaufnahmen?«
Sie nickte mir zu. »Ja.«
»Und weiter?«
»Da erschien plötzlich aus der Luft eine Gestalt, die wie ein Engel aussah und…«
Das Telefon unterbrach Glenda. Da ich an meinem Kaffee nuckelte, schnappte sich Suko den Hörer. Er musste sich nicht erst melden, der Anrufer nahm ihm das Wort aus dem
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