1561 - Wächterin der Nacht
hatte ein nettes Gesicht, aber sie war kein Typ, der auffiel. Das würde sie wahrscheinlich erst sein, wenn sie entsprechend geschminkt war. Ansonsten machte sie auf mich einen nahezu braven Eindruck, aber auch einen etwas verlegenen - oder vielleicht ängstlichen?
So genau war das für mich nicht zu trennen. Ich fragte sie noch nicht danach und folgte einer weiteren Handbewegung, die mich aufforderte, in den Wohnraum zu gehen.
Mir fiel etwas auf, was nichts mit Judy King zu tun hatte.
In dem nicht sehr großen Zimmer herrschte eine Luft, die ich als ungewöhnlich oder nicht normal ansah. Sie war reiner und klarer und dadurch irgendwie unnatürlich.
Dafür musste es einen Grund geben, den ich gern herausfinden wollte. Nur wollte ich mir mit der Fragerei Zeit lassen und kümmerte mich zunächst um andere Dinge, nachdem Judy mir einen Platz in einem der beiden Sessel angeboten hatte.
»Möchten Sie auch etwas trinken, Mr. Sinclair?«
»Nein, danke. Ich bin auch bald wieder verschwunden.«
Sie nickte und fragte dann: »Und womit kann ich Ihnen helfen?«
Ich lächelte. »Wahrscheinlich wissen Sie längst, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin. Es geht natürlich um das Geschehen auf dem Dach des Hotels, auf dem das Foto-Shooting mit Ihnen stattgefunden hat.«
Sie nickte und meinte: »Ja, das ist mir klar. Ich hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre.«
»Schön, dann sind wir uns ja einig. Was können Sie mir dazu sagen, Judy? Oder darüber?«
»Nichts.«
»Ach…«
Sie hob die Schultern und flüsterte: »Es ist doch schon alles gesagt worden.«
»Meinen Sie?«
»Ja, von meiner Seite aus schon.« Ich hatte da meine Zweifel. Zwar hatte sie mit fester Stimme gesprochen, aber ihr Blick gefiel mir nicht. Er war unstetig, und sie schaffte es nicht, mir fest in die Augen zu sehen. Es kam mir vor, als hätte sie Angst vor mir.
Ich versuchte, ihr eine Brücke zu bauen, und sagte mit leiser Stimme: »Sie können mir vertrauen, Judy. Ich meine es wirklich gut mit Ihnen. Sie werden bestimmt einsehen, dass ich als Polizist der Sache nachgehen muss. Da ist jede Einzelheit wichtig. Es hat bisher keine Toten gegeben, aber das kann sich schnell ändern, sollte die Gestalt, die alle auf dem Dach gesehen haben, noch mal zuschlagen.«
»Kann sein.« Judy fixierte mich plötzlich. »Warum sind gerade Sie zu mir gekommen? An der Aufklärung arbeitet doch ein ganzes Team. Aber Sie habe ich bisher nicht dabei gesehen.«
»Stimmt. Das kann ich Ihnen auch erklären. Ich stehe beim Yard für bestimmte Ermittlungen in bestimmten Fällen bereit. Wenn sich Dinge ereignen, die über die Grenzen des Normalen hinausgehen, dann steht unsere Abteilung bereit, um einzugreifen. So ist das auch in diesem Fall.«
»Sind Sie ein Sonderermittler?«, fragte sie.
»Das ist korrekt«, erwiderte ich, ohne ihr allerdings die ganze Wahrheit über meinen Beruf zu sagen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen etwas Neues sagen kann, was ich nicht schon Ihren Kollegen erzählt hätte. Ich glaube, Sie haben sich umsonst die Mühe gemacht, mich aufzusuchen.«
»Kann sein.« Ich lächelte Judy an, bevor ich weiter sprach.
»Es gibt da einige Details, über die ich gestolpert bin. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass niemand diese Angreiferin fotografiert hat, obwohl doch einige Fotografen da waren.«
»Ja das stimmt.« Judy rieb mit ihren Handflächen über den Kleiderstoff.
»Wahrscheinlich war der Schreck so groß, dass die Jungs nicht daran gedacht haben.«
»Abgebrühte Fotografen? Profis?«
»Kann doch sein.« Ich sah sie an, und Judy senkte den Blick, nachdem sie mit einer kurzen Kopfbewegung ihre Haare aus der Stirn geworfen hatte.
»Oder hat es doch jemand getan, Judy?«
Sie wartete mit ihrer Antwort. Dann nickte sie einige Male.
»Sie haben recht. Einige haben tatsächlich fotografiert. Die Jungs sind ja immer darauf erpicht, Sensationsfotos zu schießen. Das ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.«
»Dann haben sie also Bilder geschossen?«
»In der Tat. Ich habe die Verschlüsse klicken gehört.« Judy lachte. »Was ich Ihnen jetzt sage, darüber habe ich mit Ihren Kollegen nicht gesprochen. Denn diese Fotos sind allesamt nichts geworden.«
»Ach.«
Mein erstaunte Reaktion verleitete sie dazu, weiter zu sprechen.
»Diese Person ließ sich nicht fotografieren. Sie war auf keinem einzigen Bild zu sehen, obwohl es so hätte sein müssen. Aber das ist nicht der Fall gewesen.«
Ich pfiff
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