1561 - Wächterin der Nacht
schrecklichen Augenblicke würden sich so leicht nicht aus dem Gedächtnis löschen lassen.
Sie arbeitete als Model, allerdings in einem seriösen Bereich.
Ich stellte mir permanent die Frage, was diese Gestalt mit dem Namen Liliane dazu getrieben hatte, auf dem Hoteldach zu erscheinen und einen derartigen Angriff durchzuführen.
Wenn man normal dachte, gab es kein Motiv.
Aber was war bei meinen Fällen schon normal? Eigentlich nichts. Wir stocherten unaufhörlich in einem Sumpf herum, in dem die Mächte der Finsternis sich mehr als wohl fühlten.
Die Fahrt führte mich nach Pimlico und bis in die Nähe der Themse.
Schnell stellte ich fest, dass ich zu drei recht hohen Häusern fahren musste, die mit kleinen Apartments voll gestopft waren. Die Häuser sahen alle gleich aus, sogar vom Anstrich her. Es gab jeweils zehn Etagen in diesen Würfeln, und wer nach Westen schaute, hatte ab der vierten Etage freie Sicht auf die Bahngleise, die über die Themse hinweg zur Victoria Station führten.
Zwischen den Häusern gab es feie Flächen. Allmählich traute sich auch der Rasen aus dem Boden hervor, und ein grüner Hauch kündigte den Frühling an.
Ich suchte mir dort einen Parkplatz, wo ich andere Fahrzeuge, die abgestellt waren, nicht behinderte, und als ich ausstieg, trafen mich die ersten nassen Flocken.
Die Temperatur lag über dem Nullpunkt, aber in der Höhe war es noch sehr kalt.
Auf dem Weg zum Erdboden waren die Flocken noch nicht geschmolzen.
Das nasse Zeug klatschte mir auch ins Gesicht. Ich beeilte mich, das Haus zu erreichen, dessen Eingangsbereich ein breites Vordach hatte, unter dem ich geschützt war.
Mein Blick glitt über das Klingelschild. Ich suchte den Namen Judy King, fand ihn auch und wusste, dass ich nicht sehr hoch musste. Die Wohnung der Frau lag in der vierten Etage.
Das Glück stand diesmal auf meiner Seite, weil mir jemand von innen die Tür öffnete, um das Haus zu verlassen. Ein bärtiger Mann mit Lederjacke hatte seine Aktentasche unter den Arm geklemmt und hastete an mir vorbei.
Ich betrat den Flur, in dem es komisch roch, der aber nicht an den Wänden beschmiert war. Das hatte ich öfter in anderen Häusern dieser Kategorie erlebt.
Auch der Lift funktionierte, den ich mir nach unten holte, sodass ich Sekunden später einsteigen konnte.
Ich wurde in die vierte Etage getragen und hatte etwas Zeit, nachzudenken. Was würde mich erwarten? Ich wusste es nicht, und ich wollte mir auch keine Vorstellungen machen, sondern abwarten, was Judy King mir zu berichten hatte.
Es waren keine Bilder des Vorfalls in die Zeitungen gelangt. So war ich darauf gespannt, was für ein Typ Mensch mir da gegenübertreten würde.
Ich stieg in der vierten Etage aus und konnte unter mehreren Türen wählen. Der Weg führte mich in einen kurzen Gang hinein, an dessen Ende das von mir gesuchte Apartment lag.
Das Schild mit dem Namen Judy King entdeckte ich direkt über einer Klingel.
Ich drückte auf den silbernen Knopf, schellte erst nur einmal und wartete ab.
Es tat sich nichts in den nächsten Sekunden.
Nur war ich kein Mensch, der so schnell aufgab. Ich klingelte erneut und setzte ein freundliches Lächeln auf, weil ich vor einem Guckloch stand und sicherlich von innen beobachtet wurde, falls Judy King zu Hause war.
Da hatte ich wieder Glück, denn plötzlich wurde die Tür geöffnet, aber von einer Kette gehalten, sodass ich nur einen schmalen Ausschnitt sah und darin ein Gesicht, das nach meinem Empfinden einen leicht ängstlichen Ausdruck zeigte. »Wer sind Sie?«
Eine weiche Flüsterstimme erreichte meine Ohren. Das Lächeln auf meinem Gesicht verschwand nicht. Den Ausweis hatte ich längst hervorgeholt, ohne ihn schon jetzt zu zeigen. Mit freundlicher Stimme sagte ich meinen Namen. »Ich kenne keinen John Sinclair.«
Die Antwort überraschte mich nicht.
»Aber Sie sind Judy King?«
»Ja…«
»Dann bin ich hier richtig.« Sie protestierte nicht und fragte nur: »Und wer sind Sie?«
»Scotland Yard.«
Erst jetzt zeigte ich ihr meinen Ausweis.
»Sie können sich bestimmt denken, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin.«
Diesmal erhielt ich keine Antwort. Stattdessen hakte sie die Kette aus und zog die Tür auf.
Ich wartete, bis sie mich mit einer einladenden Handbewegung bat, einzutreten, und ging dann an ihr vorbei.
Die Wohnung war recht klein. Das Gefühl hatte ich bereits nach dem ersten Schritt.
Judy war eine junge Frau mit Modelmaßen und blonden, etwas eingefärbten Haaren.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher