1564 - Wenn die Toten sprechen
Nichts geschieht nur einfach so. Auch wenn es einem noch so komisch vorkommt, aber Dinge geschehen, das sage ich dir. Silke und ich haben das auch schon erlebt.«
Maria nickte und lächelte.
»Du bist lieb«, sagte sie mit leiser Stimme, »wirklich lieb. Aber manchmal hält das Leben Überraschungen bereit, die man einfach nicht erklären kann. Man kann sie auch nicht beeinflussen, weil sie von anderen Kräften gelenkt werden. Du weißt, was ich damit meine?«
»Nein.«
Silke fragte: »Sprichst du vom Schicksal?«
Maria drehte sich zu ihr um.
»Ja, ich spreche vom Schicksal. Das ist dem Menschen vorbestimmt. Das kann man nicht beeinflussen. Daran müsst ihr euch gewöhnen. Ich habe es auch gemusst.«
»Stimmt«, sagte Silke. Sie wollte lächeln. Es gelang ihr nicht so recht.
Maria war für sie eine etwas ambivalente Person. Man konnte sie nicht richtig einschätzen. Sie hatte sich in diesem Mordhaus aufgehalten, sie reagierte nicht mit Panikattacken, und so kam Silke zu dem Schluss, dass sie unter Umständen mehr wusste, als sie zugeben wollte. Für die Täterin hielt sie das Mädchen nicht. Aber für jemanden, die mehr wusste, als sie bisher zugegeben hatte.
Maria schien zu ahnen, dass die junge Frau über sie nachdachte. Sie sagte nichts mehr, strich über ihr dunkles Haar und hob die Schultern an.
»Ich glaube, dass ich nicht mehr länger hier bleiben will.«
»Du willst gehen?«, fragte Mike.
Sie nickte.
»Wohin?«
»Aus dem Zimmer.«
Silke und Mike hatten kein Recht, sie aufzuhalten. Sie konnten Maria sogar verstehen. Auch sie spürten ein Unbehagen, das von ihnen Besitz ergriffen hatte.
So schauten sie Maria nach, die an ihnen vorbei und zur Tür ging.
»Da stimmt doch was nicht!«, flüsterte Silke scharf.
Mike hob die Schultern.
Silke wollte es wissen, denn sie traute dem Braten nicht. Deshalb lief sie Maria nach. Sie schaute in den Flur und zuckte zusammen, was auch Mike mitbekam.
Sofort lief er ihr nach.
Jetzt schauten beide in die gleiche Richtung, in die Maria gegangen war.
Dort befand sich die Eingangstür. Und sie hätten Maria dort sehen müssen, was letztendlich auch der Fall war. Nur bekamen beide große Augen, denn das Mädchen war da und trotzdem nicht vorhanden.
War es ein Schatten, ein Umriss? Ein allerletzter körperlicher Gruß? Sie wussten es nicht, aber sie sahen gleich darauf, dass Maria sich förmlich auflöste und dann verschwunden war.
Silke lachte. Es klang nicht eben lustig. Sie wandte sich an ihren Mann.
»Sag nicht, dass du das Gleiche gesehen hast wie ich. Sag es nicht. Oder doch?«
Mike nickte nur. Er konnte nicht mehr sprechen, weil seine Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Schließlich schaffte er doch eine Antwort und flüsterte: »Das gibt es nicht. Nein, das glaube ich nicht.«
»Und wo ist sie jetzt?«
»Nicht mehr da.«
»Genau, Mike, nicht mehr da.«
Als hätten sie sich gegenseitig abgesprochen, drehten sie sich einander zu. Auf ihren Gesichtern lag eine Gänsehaut, und Mike flüsterte: »Ich glaube, wir sind in einem Horrorfilm. Ich begreife gar nichts mehr…«
***
Das Wetter zeigte sich von einer frühlingshaften Seite, denn die Sonne schien. Es war eigentlich ein Tag, den man im Freien verbringen musste.
Das taten auch zahlreiche Menschen, aber ebenso viele hockten in ihren Büros, und dazu gehörten wir auch.
Bei Regen, Sturm und Schnee war mir das egal, doch wenn ich bei diesem Sonnenschein aus dem Fenster schaute, stiegen schon leichte Neidgefühle in mir hoch.
Ich hatte mich mit Papierkram beschäftigt. Hatte E-Mails gelesen und auch eine Fachzeitschrift durchgeblättert. Dabei hatte ich krampfhaft überlegt, wie man der Büroenge entfliehen könnte, aber mir war leider nichts eingefallen.
Irgendwann drehten sich meine Gedanken dann um das, was wir bei Sir James gehört hatten. Ich glaubte nicht daran, dass sich die Kollegen geirrt hatten.
Da war plötzlich ein Mädchen oder ein Teenager erschienen und hatte ihnen mitgeteilt, wo sie suchen mussten, um ein entführtes Kind zu finden.
Das war sehr ungewöhnlich und eigentlich nicht zu fassen. Und deshalb war es etwas für uns, denn für uns gehörte es zur Normalität, dass wir mit solchen Dingen konfrontiert wurden.
Ich wollte mit Suko darüber reden.
Er saß mir an der anderen Seite des Schreibtisches gegenüber, und ich hatte schon meinen Mund geöffnet, als ich ihn wieder schloss.
Suko saß auf seinem Platz und meditierte. Zumindest behauptete er das, wenn man ihn auf
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