1564 - Wenn die Toten sprechen
gab einfach zu viele Möglichkeiten, um hinter einer Deckung zu verschwinden, und das besonders an einer Stelle, die vor uns lag. Dort wuchs das Buschwerk zu Hecken zusammen, beschirmt von den Ästen der Bäume.
Wo wir gingen, standen die Grabsteine noch recht weit auseinander. Es gab also genügend Platz für uns. Ich hatte manchmal das Gefühl, mich wie auf einem Präsentierteller zu bewegen.
Von Maria sahen wir nichts. Das Gras war an verschiedenen Stellen so zertrampelt, dass die Halme flach auf dem Boden lagen.
Mir fiel die ungewöhnliche Stille auf. Es lag daran, dass kein Vogel mehr zu hören war.
Maria hatte immer wieder von gefährlichen Gegnern gesprochen, aber die bekamen wir nicht zu Gesicht. Sie hielten sich offenbar versteckt oder waren noch nicht da. Das wäre für uns und vor allen Dingen für Maria und Silke Hartmann am besten gewesen.
Beide waren nicht zu hören. Es gab keine Stimmen, die an unsere Ohren gedrungen wären. Wir schienen allein auf dem Gelände zu sein, das allmählich in den alten Teil des Friedhofs überging, wo die Lücken zwischen den Grabsteinen nicht mehr so groß waren und man das Gefühl haben konnte, am Rand eines Waldes zu stehen, in dem zahlreiche Gefahren lauerten.
»Ich denke, dass wir nicht mehr weit laufen müssen«, sagte Suko mit leiser Stimme, als befürchtete er, jemanden zu warnen, der im Hintergrund lauerte.
Wir waren ein paar Schritte nach vorn gegangen und sahen an der rechten Seite eine mächtige Eiche, als sich die Lage veränderte.
Optisch nicht, denn alles blieb gleich.
Dafür akustisch.
Plötzlich hörten wir vor uns Stimmen, und für uns war es mit der Lockerheit vorbei…
***
Maria Conti wusste, dass das Auftauchen der beiden Gestalten kein Spaß war. Die waren nicht gekommen, um jemanden zu schrecken. Sie waren geschickt worden, um zu töten, um endlich das zu beenden, was sie begonnen hatten.
Hinter ihrem Rücken hörte Maria einen Laut, der ihr in der Seele wehtat.
Dieser eine Laut, den Silke ausgestoßen hatte, enthielt all die Verzweiflung, die sie empfand. Sie sah ein, dass ihre Chance vorbei war.
Maria reagierte nicht darauf. Sie konzentrierte sich auf die beiden Gestalten, und sie sah jetzt auch, dass sie bewaffnet waren.
Ihre Arme hingen wie Stöcke seitlich an ihren Körpern herab.
Die schwarzen Handschuhe passten perfekt zu ihrer Kleidung, und in der rechten Hand hielten sie Messer mit langen und schmalen Klingen.
Als Maria sie sah, durchlief sie ein Schauer. Sie konnte sich vorstellen, dass mit diesen Waffen Mike Hartmann umgebracht und seine Frau Silke gefoltert worden war. Und das nur, um Maria in ihre Gewalt zu bekommen.
Es war bisher kein Wort gesprochen worden, und Maria stellte sich die Frage, ob diese Gestalten überhaupt reden konnten. Sie glaubte nicht so recht daran. Warum verbargen sie ihre Gesichter? Was hatten sie überhaupt zu verbergen?
Erst nach einigen Sekunden schaffte Maria es, sich zu bewegen, was die beiden zuließen. Sie waren sich offenbar völlig sicher, und so ließ Maria die rechte Hand in der Kleidertasche verschwinden.
Es gab ihr ein gutes Gefühl, das Kreuz umfassen zu können. Die Stimmen der Toten brandeten auch weiterhin durch ihren Kopf. Nur waren sie jetzt schwächer geworden, als hätten sie sich aus Furcht zurückgezogen. »Wir haben dich!« Sie konnten also doch sprechen! Nur war es nicht leicht gewesen, die Worte zu verstehen. Unter dem Sichtvisier des Helms klangen sie dumpf und auch leise.
Maria wusste, dass sie Zeit gewinnen musste, wenn sie überleben wollte. Und das konnte sie nur, wenn sie die Kerle am Sprechen hielt und sie zunächst von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenkte.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte sie leise. »Ich habe euch nichts getan. Wir sind uns nie zuvor begegnet.«
»Du bist eine Feindin unseres Herrn und Meisters. Er hat dich ausgesucht. Du hättest ihm gehören sollen, aber du bist ihm entglitten, und das kann er nicht hinnehmen. Das darf nicht sein, verstehst du? Was ihm gehört, das muss auch in seinem Besitz bleiben, und damit hat es sich. Es sind die alten Regeln, gegen die du dich gestellt hast. Nichts davon kann er akzeptieren.«
»Was ist denn so schlimm daran, dass ich die Stimmen der Toten höre? Es ist für die Menschen nur gut. So kann ich viel für sie tun und…«
»Er will es nicht.«
»Was will er dann?«
»Dich aus der Welt haben. Er mag keine Personen, die sich mit ihm anlegen. Er hat schon früh erkannt, wer du bist, und dich auf seine
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