1574 - In den Händen des Folterers
lagen.
Hatten einige Gäste sich bis dahin noch wispernd und flüsternd unterhalten, um sich auf dieses oder jenes aufmerksam zu machen, so wurde es nun still. Neugierig schoben sich die Männer und Frauen heran, um einen Blick auf die beiden Eier werfen zu können, in denen sich das neue Leben herangebildet hatte.
Feierlich trat Pralkat Kowas an das gepolsterte Lager heran, das Nest genannt wurde, obwohl es damit kaum noch etwas gemein hatte. In der Hand hielt er einen kleinen, blitzenden Hammer mit scharfer Spitze. Damit beugte er sich über die beiden Eier und hieb überaus vorsichtig gegen ihre Schale. Bei beiden bildete sich augenblicklich ein schmaler Riß, der sich rasch verbreiterte, als es sich im Innern der Eier regte.
Die Somer-Küken wären in der Lage gewesen, sich ohne die Hilfe des Eibrechers aus der Hülle zu befreien, die ihnen so lange Schutz gewährt hatte, doch die Tradition der Somtran-Somer verlangte, daß ein Mann wie er ihnen dabei half.
Einige der Frauen stießen Schreie des Entzückens aus, als die kleinen Schnäbel sichtbar wurden, die gegen die Eihülle pickten und mühsam den Widerstand brachen. Minuten vergingen, dann kroch das erste Somer-Küken aus der Hülle, ein flauschiges, feuchtes Bündel, gelb und schön, und ein entzücktes Raunen ging durch den Raum.
Massur wechselte voller Stolz einen Blick mit seiner Frau, die ihn ungewohnt liebevoll erwiderte.
Dann aber brach das zweite Ei, und damit stürzten alle Hoffnungen Massurs auf ein großes Fest mit seinen Gästen, auf hohes Ansehen und Glückwünsche aus aller Welt jäh ins Nichts.
Aus der Eihülle kroch ein graues Somer-Küken mit schwarzen Stummelflügeln und einem schwarzen Schnabel.
Keine Mißgeburt, sondern ein Angehöriger eines Somtran-Somer-Stammes, der verborgen in den Bergen und in der Wüste lebte, aber die eigenen Eier niemals selbst ausbrütete. „Jemand hat ein Ei ausgetauscht!" schrie Massurs Tochter Erga, und Mutter Amla fiel in Ohnmacht.
Der Eibrecher Pralkat Kowas versetzte Massur einen Fausthieb in die Seite und verließ empört das Haus, gefolgt von den vielen Gästen, die es eilig hatten, aus der Nähe eines Mannes zu verschwinden, der nicht in der Lage war, einen derart schmählichen Eiertausch zu verhindern und damit den Ruf seines Hauses zu ruinieren.
Massur stand wie gelähmt vor den beiden Küken. Immer wieder ging ihm im Kopf herum, daß sein Name für alle Zeiten mit der Schande verbunden war, die er über seine Familie gebracht hatte. In Sekunden war sein gesellschaftlicher Höhenflug beendet worden, und das Wohlwollen seiner Gäste hatte sich in tiefste Verachtung verwandelt.
Für jeden Bürger von Somtran war es die höchste Pflicht, seine Brut zu bewachen. Jeder wußte, daß die Assasids die Städte und Dörfer ständig belauerten und nur darauf warteten, ihre Eier in die wohlbehüteten Nester zu legen, um sie dann von anderen ausbrüten zu lassen.
Erga stürzte sich auf ihn, und ihre Hände krallten sich um seinen Hals. Tränen flossen ihr über die Wangen. „Wie konntest du uns das antun!" schrie sie voller Verzweiflung. „Ich kann doch nichts dafür", stammelte er hilflos. „Dir, ausgerechnet dir muß so etwas passieren", wimmerte sie und sank gebrochen auf die Knie. „Du hast so viel Macht! Du hast so viele Soldaten, die uns hätten bewachen können, aber du bist einfach zu dämlich, um deine Familie beschützen zu können. Ich hasse dich!"
Massur blickte auf sie und auf seine Frau hinunter, und er spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Er glaubte bereits, das Gelächter hören zu können, das sich durch alle Städte und Dörfer des Planeten ziehen würde. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er selbst vor etwa drei Jahren gelacht hatte, als einem seiner Feinde ebendieses Mißgeschick geschehen war - woran er nicht ganz unschuldig gewesen war. Mit Hohn und Spott hatte er ihn überschüttet. „Wenn du noch einen Funken Ehre im Leib hättest, würdest du dich töten", stammelte seine Tochter. „Warum tust du es nicht? Warum nicht? Warum bist du so feige?"
„Ich darf nicht", brachte er mühsam hervor. „Ich habe Pflichten, die ich erfüllen muß."
Er wußte, daß es die Lügen eines Schwächlings waren, aber er konnte nicht anders.
Fluchtartig verließ er das Haus, stieg in einen Antigravgleiter und flog zu einem nahen Vulkan hinüber.
Er mußte sich abreagieren. Er brauchte ein Ventil.
Massur blickte starr auf das ausgedehnte Lager, das sich am Fuß des Vulkans
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