1588 - Die falsche Kette
gemalten Blüten zusätzlich mit grauer Farbe gegen den Hintergrund abzusetzen, obwohl diese dicken, grauen Ränder den Gesamteindruck der betreffenden Bilder ganz erheblich störten?
Warum waren die Wurzeln der Kima-Sträucher nicht in brauner Farbe gehalten, wie es der Natur entsprochen hätte?
Und warum hatte man die großartige Weltuntergangsszene dadurch verschandelt, daß man gezackte graue Linien über das gesamte Bild geschmiert hatte?
Dorina Vaccer zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber. Sie hatte zwar die ganze Zeit hindurch das Gefühl, daß ihr die Antwort auf all diese Fragen bereits auf der Zunge lag, aber sie bekam die Lösung einfach nicht zu fassen.
Statt dessen wurde ihr plötzlich bewußt, daß all diese Malereien in ein und demselben Stil gehalten waren.
Sie betrachtete die Bilder als Gesamtheit: Nirgends war ein Bruch in der Darstellung zu bemerken.
Sie verglich die Breite der Striche miteinander, den Schwung der Linien, die Art der Darstellung, und überall fand sie mehr Übereinstimmungen als Unterschiede.
Die thematisch gesehen früheren Bilder wirkten etwas unbeholfener, als sei sich der Künstler seines Könnens noch nicht ganz sicher gewesen. Gegen Ende der Geschichte war sein Stil ausgereift, aber die Ausführung der Bilder wurde immer sparsamer.
Es war nur ein einzelner, der diese Bilder gemalt hat, erkannte die Friedensstifterin. Einer der Überlebenden.
Dieser Jemand mußte Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte gebraucht haben, bis es ihm gelungen war, mit so primitiven Mitteln die ganze Höhle zu bemalen.
Wenn es einer der Überlebenden war, warum hat er dann einen so umständlichen Weg gewählt? fragte sich Dorina Vaccer. Warum diese Bilder - warum nicht einfach eine schriftliche Botschaft?
Sie gab sich selbst die Antwort: Weil er nicht daran geglaubt hat, daß seine Nachkommen mit einer solchen schriftlichen Mitteilung etwas anfangen könnten. Er hat gedacht, daß eine bildliche Darstellung uns mehr sagen würde. Er konnte schließlich nicht ahnen, daß wir heutzutage durchaus imstande wären, eine Botschaft in arkonidischer oder tefrodischer Schrift zu entziffern.
Immer wieder kehrte sie zu dem Bild auf grauem Grund zurück.
Dort lag die Antwort auf all ihre Fragen.
Sie wußte es.
Aber ich bin einfach zu dumm, um diese Antwort zu finden! dachte sie verzweifelt.
Je mehr sie sich auf dieses eine Bild konzentrierte, desto verkrampfter wurde sie. Damit verringerten sich ihre Chancen, die Lösung des Rätsels zu finden.
Sie erkannte die Gefahr und widmete sich jenen Darstellungen, die sich mit dem Leben der ersten Linguiden befaßten.
Die Leiter war ihr im Weg - sie versperrte ihr den Blick auf einen wichtigen Teil eines Bildes.
Dorina Vaccer ging hin, um diesen Störfaktor auszuschalten.
Sie legte die Hände um die Leiter, stellte sie schräg ... ... und plötzlich war ihr zumute, als hätte der Blitz sie getroffen.
Es war eine ganz normale, altmodische Leiter. Die Holme und zwei der Sprossen ergaben einen optischen Rahmen, in dem sich zufällig eine der in einfachen Strichen ausgeführten Gestalten befand.
Die uralten Symbole für das Kima und die damit in Verbindung stehenden Begriffe wurden grundsätzlich in solche Rahmen gesetzt. Erst wenn man die Position des eigentlichen Symbols im Verhältnis zu seiner Umgebung berücksichtigte, offenbarte sich die jeweilige Bedeutung des Zeichens.
Als Dorina Vaccer jetzt durch die Sprossen der Leiter auf die gezeichnete Figur an der Höhlenwand blickte, erkannte sie plötzlich, daß diese Gestalt nichts anderes als ein solches Symbol darstellte. Und dieses Symbol bedeutete: Sprich in Zeichen zu mir! Er hat tatsächlich eine schriftliche Botschaft hinterlassen! dachte Dorina Vaccer triumphierend. Eine Botschaft in der Tanzsprache. Garyo hat immer wieder darauf beharrt, daß dies die älteste Form der linguidischen Kommunikation ist. Ich wollte, er hätte diese Höhlenzeichnungen sehen können!
Die Tanzsprache - kein Wunder, daß dieses ominöse Bild auf grauem Grund immer wieder Dorina Vaccers Blicke auf sich gezogen hatte!
Jetzt, da sie endlich wußte, worauf sie zu achten hatte, sah sie, daß sich auch hier aus der Position des Bildes innerhalb der Gesamtheit der Malereien ein Rahmen um die Tänzer ergab, der sie über die bildliche Darstellung hinaus zu Symbolen erhob.
Das galt auch für alle anderen Einzelbilder.
Und nicht nur für die kompletten Bilder, sondern auch für jedes einzelne Teil eines jeden
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