1588 - Die falsche Kette
Bildes.
Sogar für jeden einzelnen Strich. Dies ist das Nichts, das uns zu verschlingen droht! sagten die Figuren, aus denen der Kreis sich zusammensetzte, und die, die sich an die gezackte Linie klammerten, teilten mit: Dies ist der Anker, der das Nichts besiegt. Ich gebe dir den Boden unter den Füßen zurück, verkündete die Haltung jenes Schiffbrüchigen, der den ersten jungen Kima-Strauch an einen seiner Nachkommen weiterreichte. Aber es funktionierte nicht nur in der einen, sondern auch in der anderen Richtung: Die Geschichte reichte nicht nur bis in die einzelnen Striche jeder einzelnen Figur hinab, sondern die Bilder als Ganzes ergaben wiederum übergeordnete Symbole.
Bis zu jenem Zeichen hinauf, das alle Darstellungen in dieser Grotte zusammen faßte: Kima.
Als Dorina Vaccer dieses Symbol erkannte, wurde ihr klar, warum der unbekannte Künstler der Vorzeit die Bilder so eng an- und ineinander gesetzt hatte, daß man oft nur mit Mühe die Grenzen zwischen den einzelnen Darstellungen zu erkennen vermochte.
Sie begriff, warum dieser Maler sein eigenes Werk mit all den scheinbar völlig sinnlosen grauen Linien verschandelt hatte.
Sie verstand, warum Sando Genard hatte sterben müssen.
Und sie wußte, warum kein Linguide jemals imstande sein würde, die von einem Zellaktivator ausgehenden Impulse zu verkraften.
So, wie die grauen Linien innerhalb der Höhlenmalereien von Zonai alle Einzelheiten dieser Bilder miteinander verbanden, so reichte das Kima bis in alle Bereiche des linguidischen Verstandes hinein: Unzählige kleine, graue Wurzeln, verankert in jedem einzelnen Begriff. In einem linguidischen Verstand konnte es keine einzige Assoziation, keinen einzigen Gedanken geben, der am Kima vorbeizukommen vermochte.
Und das war noch längst nicht alles. Diese kleinen Wurzeln reichten sogar bis in jene Bereiche des Gehirns hinab, in denen die vegetativen Vorgänge im Innern des Körpers überwacht und gesteuert wurden.
Auf diese Weise umfaßte das Kima alles, was einen Linguiden zu dem machte, was er war: seine Gedanken, seine Gefühle, sein Wissen, sogar die Beschaffenheit seines Körpers.
Wenn ein Linguide sein Kima verlor, dann war es, als verliere er die Hülle, die ihn zusammenhielt.
Aber im Grunde genommen war es gar nicht das Kima, das er verlor, sondern sein Weltbild.
Denn das Kima war nichts anderes als eine falsche Kette - die gewaltigste falsche Kette, auf die je ein Linguide gestoßen war.
Und im Grunde genommen war es schon gar keine Kette mehr, denn es war viel zu groß, als daß man es noch so hätte nennen können.
Wenn man das Weltbild eines Individuums als Brett ansah, auf dem die Begriffe der Subjektiven Realität als Kristalle nebeneinander lagen, dann waren normale falsche Ketten wie Klebestreifen, die heimtückisch unter den Kristallen verborgen lagen.
Berührte man versehentlich einen solchen Klebestreifen, dann geriet das Weltbild in Bewegung.
Die einzelnen Begriffe drehten sich und kehrten andere, bis dahin nicht oder nur teilweise sichtbare Facetten nach oben. Das Bild - die Individuelle Realität - veränderte sich bei diesem Prozeß in meist nicht vorhersehbarer Weise: Aus Freund wurde Feind, was vorher vertraut war, wirkte plötzlich fremd, ein harmloses Werkzeug konnte zur Waffe werden, Gefühle, Gedanken und Assoziationen wurden auf den Kopf gestellt.
Der Verstand konnte sich auf eine so schnelle Veränderung meist nicht einstellen und versank im Chaos.
Aber das Kima war keine Kette, die zwischen den einzelnen Begriffen verlief.
Sondern es war das Brett.
Das Kima war die Basis für alles, was zur linguidischen Realität gehörte.
Und die Höhlenmalereien von Zonai erzählten, wie diese unglaubliche Kette entstanden war.
*
Man wußte mittlerweile, wie es zu der furchtbaren Katastrophe auf dem Planeten Lingora gekommen war: Die Arkoniden hatten versucht, dieses Sonnensystem nach ihren Vorstellungen umzuformen. Die Tefroder waren zufällig bei ihrer Suche nach dem Planeten der Unsterblichkeit in dieser Gegend aufgekreuzt. Es war zum Kampf gekommen. Zwei Raumschiffe waren abgestürzt. Das außer Kontrolle geratene Experiment der Arkoniden hatte in ein Inferno geführt. Die Arkoniden hatten daraufhin die Flucht ergriffen.
Die Malereien erzählten, was danach geschehen war.
Ungeheure Energiemengen waren freigesetzt worden und hatten das Raum-Zeit-Kontinuum aufgerissen. Ein solcher Strukturriß hatte einige der Schiffbrüchigen verschlungen.
Von einem
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