1588 - Die falsche Kette
Wurzeln.
Die Schiffbrüchigen reichten diese jungen Pflanzen an ihre Nachkommen weiter.
Dieses Bild stand im Zenit der Grotte - im Zentrum der Darstellungen.
Dort gehörte es auch hin.
Jeder Linguide hätte es an diesen Platz gestellt, auch heute noch.
Denn diese kleinen Zweige mit den Wurzeln daran standen auch jetzt noch im Zentrum all dessen, was linguidische Kultur und Lebensweise ausmachte: Diese bewurzelten Zweige waren mit den ersten Kima-Sträuchern identisch.
Dorina Vaccer betrachtete das Bild lange und mit großer Ehrfurcht.
Dann widmete sie sich dem weiteren Verlauf der Geschichte.
Auf den nächsten Bildern zeichnete sich die Vermischung zwischen Tefrodern und Arkoniden ab.
Die Unterschiede zwischen ihnen verwischten sich. Es entstand ein neues Volk.
Das Volk der Linguiden.
Die Geburt dieses neuen Volkes war mit großen Schwierigkeiten verbunden.
Die Nachkommen der Schiffbrüchigen mutierten zu haarigen, affenähnlichen Wesen. Die Eltern dieser behaarten Kinder taten sich schwer damit, diese Veränderung zu akzeptieren: Sie fürchteten den Rücksturz in die Primitivität.
Und diese Rückentwicklung ließ denn auch nicht lange auf sich warten.
Die Kinder der Schiffbrüchigen verließen die Sicherheit der Höhlen und gingen hinaus in die Wälder. Sie brauchten keine Kleidung, denn sie hatten ein dichtes Fell. Bei der Jagd benutzten sie Keulen und Speere. Sie arbeiteten mit Werkzeugen aus Stein.
Die Rückkehr zu den Ursprüngen der Zivilisation war damit vollzogen.
Nur eines unterschied diese wilden Nachkommen der Arkoniden und Tefroder von allen anderen Intelligenzen dieser Entwicklungsstufe: Soviel sie auch vergaßen, was immer sie auch verloren, so weit sie sich auch von der Lebensweise ihrer Vorfahren entfernten - den Brauch, jedes Neugeborene mit einem Kima-Strauch zu bedenken, behielten sie bei.
Sie brachten die Kima-Sträucher hinaus in die Berge und Ebenen von Lingora, pflanzten sie überall da an, wo Linguiden lebten - für jedes Kind einen neuen Strauch.
Und damit endete die Geschichte.
Dorina Vaccer verharrte eine Weile vor diesem letzten Bild. Dann blickte sie wieder hinauf zur gewölbten Decke der Höhle, zu jener Darstellung, die die Übergabe der ersten Kima-Sträucher an die Nachkommen der Schiffbrüchigen schilderte.
Die Felsmalereien von Zonai schienen tatsächlich der Schlüssel zur Vergangenheit zu sein.
Aber andererseits erklärten diese Zeichnungen nicht allzuviel.
Oder doch?
Sando Genard hatte hier die Lösung des Rätsels gefunden. Zumindest hatte er das von sich behauptet. Dorina Vaccer war geneigt, ihm zu glauben, denn wenn er nichts herausgefunden hätte, dann hätte man ihn nicht umgebracht.
Und das hatte man - es gab für die Friedensstifterin kaum noch einen Zweifel daran.
Sie schob diese Gedanken beiseite, denn es ergaben sich Fragen daraus, die zwar ungeheuer wichtig waren, mit denen sie sich aber zu diesem Zeitpunkt nicht beschäftigen wollte und durfte.
Du solltest nicht nur den Fayum auf dem grauen Tuch zerschlagen, sondern auch das enge Gefäß, das man über deinen Geist gestülpt hat, hatte Hennok zu ihr gesagt - Garyo Kaymars letzte Botschaft.
Diese Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Sinn.
Der Fayum auf dem grauen Tuch - diese barbarische Prozedur, bei der der Topf, in dem der Kima-Strauch eines Verstorbenen gestanden hatte, in tausend Stücke zerschlagen wurde.
Warum ist das Tuch der Trauer eigentlich grau? dachte sie.
Diese Frage ging ihr schon die ganze Zeit hindurch im Kopf herum.
Und da waren noch andere Fragen dieser Art.
Warum gab es Linguiden, die sich ein Leben lang nicht um ihre Kima-Sträucher kümmerten und dennoch gesund blieben?
Warum gab es andere, die täglichen Kontakt zu ihren Sträuchern hatten und trotzdem krank wurden?
Warum konnten Linguiden, die das Talent besaßen, den Zustand des Fallens manchmal heilen, indem sie den Kima-Strauch des Kranken berührten, und warum gab es andererseits Fälle, in denen diese Prozedur nicht half?
Warum war es nicht möglich, wenigstens eine einzige allgemeingültige Regel aufzustellen, was das Zusammenleben der Linguiden mit ihren Kima-Sträuchern betraf?
Und warum wurden Linguiden, die sich mit solchen Themen befaßten, über kurz oder lang von allerlei Stimmungen und Irritationen geplagt, so daß sie gezwungen waren, sich wieder auf normale, alltägliche Probleme zu besinnen?
Kein Wunder, daß es nie gelungen war, all diese Fragen zu beantworten.
Wir Linguiden wissen
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