1592 - Der Tiermensch
bezeichnen.
Noah Lynch lag auf dem Rücken. Um zu sehen, was mit seinen Schultern los war, drehte er den Kopf zuerst nach rechts und anschließend nach links.
Da war es zu sehen. An beiden Seiten. Ab-oder Eindrücke von Zähnen.
Bissstellen.
Etwas putschte ihn auf. Es war wohl das Blut, das durch seine Adern schoss, und genau dieser Vorgang brachte die Erinnerung an das Geschehen zurück.
Morgana Layton!
Plötzlich stand der Name wie ein Fanal vor seinem inneren Auge. Er traf ihn wie ein Schlag, wie eine heiße Welle, die seinen gesamten Körper umfasst hielt.
Er sah sie vor sich. Eine wunderschöne Frau, die sich in seine Einsamkeit verlaufen hatte. Die auch nichts dagegen hatte, mit ihm etwas anzufangen.
Wenn es Liebe auf den ersten Blick gab, dann hatte es zumindest ihn getroffen. Ob das auch bei Morgana der Fall gewesen war, konnte er nicht sagen. Aber die Hoffnung bestand, denn sie hatte sich nicht geweigert, mit ihm ins Bett zu gehen.
Und dann war etwas geschehen, das ihm auch jetzt noch Probleme bereitete, wenn er daran dachte.
Es war grauenhaft gewesen, einfach nicht zu fassen. Furchtbar, und es gab für ihn keine rationale Erklärung. Es war der brutale Fall von der Höhe aus in eine Tiefe gewesen, aus der er erst jetzt richtig erwacht war.
Die Frau und das Monster!
Da hatte es keine Trennung mehr gegeben. Aus dieser wunderschönen Person war ein Tier geworden.
Ein Körper mit Fell bedeckt. Ein Kopf, der einer Wolfsschnauze glich.
Hinzu kam das mörderische Gebiss, das ihn an zwei Stellen seines Körpers erwischt hatte, wo er jetzt noch die Abdrücke sah, die von dünnen Blutkrusten verziert waren.
Es war nicht zu fassen. Man hätte darüber lachen können, wenn nicht die Spuren an ihm zu sehen gewesen wären.
Noah Lynch richtete sich auf.
Draußen war es hell. Er erinnerte sich daran, dass die Dämmerung bevorgestanden hatte, als er sich sein Vergnügen holen wollte.
Jetzt war es wieder hell.
Also hatte er eine ganze Nacht in einem Zustand verbracht, an den er sich nicht erinnern konnte.
Im Bett wollte er nicht liegen bleiben.
Er war ein Mann der Tat und richtete sich auf, was zur Folge hatte, dass eine starke Hitzewelle durch seinen Körper schoss und sogar einen Druck in seinem Kopf hinterließ.
Er blieb in den folgenden Sekunden sitzen, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Jetzt tuckerte es hinter seiner Stirn. Für ihn ein Zeichen, dass bei ihm nicht alles okay war, denn solche Hitzewellen waren ihm völlig fremd.
Noah Lynch stand auf und wurde den Gedanken an diesen Bissangriff einfach nicht los. Er sah auch wieder die schöne Frau vor sich, aber er konnte sie sich nicht mehr als Menschen vorstellen.
In seiner Erinnerung war das Bild der Veränderten zurückgeblieben.
Kein Mensch mehr.
Ein Tier!
Ein - ein - seine Gedanken stockten jetzt, weil er plötzlich die Wahrheit erkannt hatte. Auch wenn er sie noch nicht einordnen konnte, sie wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Da hatte sich ein Mensch in ein Tier verwandelt, und zwar in ein bestimmtes.
Morgana Layton war zu einem Wolf geworden. Besser gesagt zu einer Werwölfin…
»Nein«, flüsterte der Mann, »das kann nicht sein.«
Auch ohne in den Spiegel zu schauen, wusste er, dass sich in seinem Gesicht das blanke Entsetzen abzeichnete.
Der Schritt vom Wolf zum Werwolf war nicht weit. Werwölfe waren Wesen, die mal als Mensch herumliefen und sich dann in einen Wolf verwandeln konnten, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt waren. Und das hatte er in seinem Schlafzimmer erlebt. Die Verwandlung einer Frau in eine Werwölfin.
Aber Werwölfe gab es nicht. Nicht in der Realität. Das waren Geschöpfe, die nur in den Fantasien der Autoren und der Filmemacher existierten. Oder etwa doch nicht?
Erneut schaute er sich seine Schultern an. Die beiden Bissstellen waren nicht wegzudiskutieren. Genau das war der Beweis dafür, dass der Keim in ihm steckte, wenn man an die magische Kraft der Werwölfe glaubte. In diesem Fall wurde alles auf den Kopf gestellt, was er als normalen Menschenverstand bezeichnete.
Obwohl sich sein Gehirn noch dagegen sträubte, ging er davon aus, dass diese beiden Wunden von dem Bissen einer weiblichen Werwölfin.
Noah Lynch schaltete seine Gedanken ab und schrie auf.
Er wollte es nicht akzeptieren, aber er musste es. Da gab es keinen Weg zurück. Das Schicksal hatte bei ihm besonders hart zugeschlagen, und als er sich hinstellte, musste er gegen einen starken Schwindel ankämpfen, der ihn beinahe von den Beinen
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