1592 - Der Tiermensch
nicht zu gebrauchen. Wer hierher fuhr, gehörte zu den Waldarbeitern, von denen sie allerdings nichts sah, sonst hätte sie sich diesen Ort nicht als Landeplatz ausgesucht.
Als sie die Höhe der Baumkronen erreichte, veränderte sie ihre Flughaltung.
Carlotta streckte ihre Beine aus. Sie kontrollierte ihre Flügel und sank dem Erdboden im Zeitlupentempo entgegen.
Direkt am Waldrand landete sie neben hohen Gräsern und auf einer dicken Laubschicht, die zum Ausruhen einlud.
Durchatmen. Wieder zu sich selbst kommen.
Carlotta fror, und sie fing damit an, ihre Wangen zu reiben, um die Durchblutung zu fördern.
Die Pause tat ihr gut. Ebenso wie die Stille, die sie umgab.
Es war keine menschliche Stimme zu hören. Auch andere Geräusche, die auf die Anwesenheit von Menschen hingedeutet hätten, vernahm sie nicht.
Carlotta ging hin und her, atmete ruhig ein und aus und kam sich vor wie eine Joggerin, die einen kurzen Zwischenstopp auf ihrer Tour eingelegt hatten.
Dann fiel ihr wieder ein, dass sie Maxine anrufen wollte. In Butter geschwenkte Steinpilze, dazu Nudeln mit einem Knoblauchöl, das war es doch.
Carlotta griff nach dem Handy in ihrer Seitentasche, als sie mitten in der Bewegung verharrte.
Sie hatte etwas gehört.
Das Vogelmädchen blieb stehen. Warum etwas Kaltes über ihren Rücken kroch, wusste sie selbst nicht. Es war nur ein leises Rascheln gewesen, das ihr eigentlich keine Furcht einjagen sollte und sie normalerweise nicht mal zur Vorsicht veranlasst hätte.
Und doch war es da!
Sie dreht sich dem Waldrand zu, denn aus dieser Richtung hatte sie es vernommen. Jetzt kam ihr der Gedanke, dass sich jemand im Wald versteckt hielt und sie beobachtete. Das konnte gut der Fall sein. Sie hoffte nur, dass es kein Mensch gewesen war, denn sie wollte nicht, dass jemand ihre Flügel sah.
Carlotta rührte sich nicht von der Stelle. Den Anruf hatte sie zunächst vergessen. Sie wartete jetzt ab und wollte sehen, was sich noch tat.
Das Geräusch blieb bestehen. Und nicht nur das. Es war sogar lauter geworden und bestand aus einer Mischung aus Rascheln und Knacken, als wäre ein Mensch dabei, sich den Weg durchs Unterholz zum Waldrand hin zu bahnen.
Es war tatsächlich so.
Da kam jemand.
Die Bäume standen recht dicht, und so hatte sie Mühe, etwas zu erkennen, aber in den Lücken sah sie die Bewegungen, und die stammten nicht von einem Tier.
Da kam ein Mensch…
Die Entdeckung sorgte bei Carlotta für ein erneutes Frösteln. Sie konnte nur hoffen, dass diese Person nicht gesehen hatte, wie sie hier gelandet war.
Sie fing bereits jetzt an, ihren Ausflug zu verfluchen, aber sie wollte auch sehen, wer da kam.
Die Geräusche nahmen an Lautstärke zu, und plötzlich weiteten sich die Augen des Vogelmädchens.
Die Person war eine Frau!
Die Entdeckung war so überraschend für sie, dass sie für einen Moment den Atem anhielt und nur das starke Klopfen ihres Herzens hörte.
Der Schauer schien nicht nur über, sondern auch durch ihren Körper zu rinnen. Sie wollte nicht von einer großen Furcht sprechen, aber das ungute Gefühl wich einfach nicht. Jetzt zu starten und sich in die Luft zu erheben, wäre unter Umständen am besten gewesen, doch das wiederum traute sie sich nicht.
Die Person ließ die letzten Hindernisse hinter sich. Auch im hohen Gras am Waldrand bildete das dichte Laub eine hohe Schicht und raschelte laut, als es durch die Schuhe der Person aufgewühlt wurde.
Sekunden später erreichte die Frau den Weg und blieb stehen. Sie sah Carlotta direkt ins Gesicht, und das Vogelmädchen wich diesem Blick nicht aus.
Vor sich sah sie eine gut aussehende Frau mit braunen Haaren, die einen leichten Rotschimmer hatten. In dem weichen Gesicht fielen die rehbraunen Augen auf, in denen etwas Geheimnisvolles schimmerte, was Carlotta verwirrte. Sie wollte es zwar nicht als eine Warnung ansehen, doch eine gewisse Vorsicht war schon geboten. Deshalb sagte sie nichts. Sie wollte, dass die Fremde als Erste sprach, was sie auch wenig später tat.
»Wer bist du?«
Carlotta hob die Schultern. »Das könnte ich auch dich fragen.«
»Ja, stimmt.« Die Frau fing an zu lachen. »Ich gebe dir auch eine Antwort. Ich heiße Morgana.«
»Und ich Carlotta.«
»He, da haben wir aber zwei tolle Namen. Ungewöhnlich, würde ich sagen.«
»Ja, das stimmt wohl.«
»Wo kommst du her?«
Carlotta gefiel die Frage nicht. Ihr gefiel auch diese Person nicht. Obwohl sie in ihrer Jacke, der Hose und den Stiefein wie eine normale
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