1592 - Der Tiermensch
beschäftigt, was das Vogelmädchen sehr wohl registrierte. Noah Lynch fühlt sich nicht mehr wohl in seiner Haut, jedenfalls sah es so aus. Seine Schultern ruckten hoch, er drehte sich auf der Stelle, und das scharfe Atmen ging in ein bösartig klingendes Knurren über, das nichts Gutes verhieß.
Carlotta brauchte nicht lange, um dies festzustellen. Sie dachte sofort einen Schritt weiter. Was mit Noah Lynch passierte, konnte nur der Beginn der Verwandlung sein, und das, obwohl es nicht dunkel war und kein Mond am Himmel stand.
Auch das unterschied ihn noch von einem echten Werwolf. Aber er war auf dem Weg dorthin. Irgendwann würde er es geschafft haben, und dann gab es kein Zurück mehr.
Carlotta hätte längst fliehen können. Sie tat es nicht, weil sie letztendlich zu fasziniert war von dem, was sie hörte und jetzt auch sah.
Die Gestalt litt. Sie ging in die Knie. Sie streckte die Arme nach vorn und wühlte mit den Händen im Laub. Sie warf heftig ihren Kopf hin und her, sie keuchte und knurrte zugleich, sackte dann in sich zusammen und schleuderte ihren Körper in das Laub.
Halb Mensch, halb Tier.
Darauf würde es hinauslaufen. Carlotta wusste dies. Sie war nur nicht besonders wild darauf, das zu erleben. Jetzt war ihr die eigene Sicherheit wichtiger.
Sie zog sich zurück.
Er ließ es zu.
Und so brachte Carlotta immer mehr Distanz zwischen sich und Noah Lynch.
Sie konnte kaum fassen, dass er sie nicht verfolgte. Er hatte immer noch mit sich selbst genug zu tun. Er kniete noch im Laub, er kämpfte mit sich selbst und versuchte wohl, gegen das anzugehen, was in seinem Innern steckte und raus wollte.
Es waren keine Schreie, die aus seinem Mund drangen. Der Tiermensch hatte seinen Kopf zurückgelegt, und Carlotta erkannte jetzt das wallende Haar, das diesen Namen nicht mehr verdiente, weil es eher einem dicken Fell ähnelte.
Sollte er weitermachen. Sollte er zu einem Tiermenschen werden. Das war ihr jetzt egal. Sie musste weg. Das eigene Leben war ihr wichtiger als die Lösung eines Geheimnisses.
Die Strecke, die sie gekommen war, konnte und wollte sie nicht zurücklaufen. Erst mal quer in den Wald hineinlaufen und das Unheimliche hinter sich lassen.
Carlotta lief so schnell sie konnte. Irgendwann würde sie eine Stelle erreichen, die es ihr erlaubte, normal zu starten, und dann hatte sie endgültig gewonnen.
Das Laub entpuppte sich als echtes Hindernis. Manchmal hatte sie das Gefühl, durch Wasser zu laufen. Sie schleuderte immer wieder die vielen Blätter hoch, wobei sie ab und zu auch gegen einen Zweig trat und den ebenfalls hoch wirbelte.
Sie konnte aber nicht alles sehen, auch nicht die Falle unter dem Laub.
Mit der Hacke des rechten Fußes glitt sie aus und stürzte. Und jetzt war die dicke Laubschicht ihr Glück, denn sie fing den größten Teil des Aufpralls ab.
Es kam ihr vor, als wäre sie auf ein weiches Bett gefallen. Nur dass es hier raschelte und Blätter durch die Luft wirbelten und sich auf ihr Gesicht legten.
Carlotta wischte sie zur Seite, schaute hoch und erschrak bis ins Mark.
Vor ihr stand Morgana Layton. Sie sagte nur einen Satz. Der aber hatte es in sich.
»Hab ich dich endlich!«
***
Natürlich trieb uns die Sorge um Carlotta voran. Wir machten uns beide Vorwürfe, dass wir sie mitgenommen hatten, aber wir waren auch der Ansicht, dass sie nicht allein zu Hause geblieben wäre. Carlotta hätte immer versucht, uns zu folgen.
Weder Maxine noch ich wussten, wie gefährlich dieser Tiermensch tatsächlich war. Werwölfe entstanden zumeist in der Nacht und wenn der volle Mond am Himmel leuchtete.
War das bei Noah Lynch auch so?
Oder gab es bei Tiermenschen wie ihm andere Regeln? Wir wussten es nicht. Eine Antwort hätte uns Morgana Layton geben können, nur war von der nichts zu sehen. Ich kannte sie besser, und so hoffte ich, dass Carlotta ihr nicht in die Arme laufen würde.
Bisher hatten wir weder von der einen noch von der anderen etwas gehört oder gesehen. Ich warf hin und wieder einen Blick nach rechts.
Dort lief Maxine Wells. Ihr Gesicht zeigte einen harten und konzentrierten Ausdruck. Ihr Blick war so scharf, als wollte sie etwas damit zerschneiden.
Neben einem mächtigen Baum, dessen Stamm eine gewaltige Krone zu tragen hatte, blieb sie stehen. Sie atmete noch immer schwer und drehte mir ihr schweißnasses Gesicht zu.
»Hat es noch Sinn, John?«
»Ja, für mich schon. Oder hast du einen besseren Vorschlag?«
Die Tierärztin hob die Schultern. »Nicht so
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