1592 - Der Tiermensch
stehen und reagierte wie jemand, der nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
Ansprechen oder nicht?
Sie entschied sich innerhalb der nächsten beiden Sekunden dafür.
»Suchen Sie wen?«
Lynch schrak zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er stieß sogar einen leisen Schrei aus und musste nicht erst herumfahren, um die Sprecherin zu entdecken, denn das Vogelmädchen trat aus seiner Deckung hervor…
***
Es dauerte nicht lange, bis der Biologe seine Sprache wiedergefunden hatte. Dabei verharrte er auf der Stelle und starrte Carlotta an, die auf ihn zuging, jedoch in einem sicheren Abstand vor ihm stehen blieb.
»Wer bist du?«
»Kennen Sie mich nicht?«
»Nein!«
»Aber ich kenne Sie.«
»Woher?«
Carlotta lächelte. Sie verbarg dahinter, was sie wirklich dachte. Ihre Reaktion machte Noah Lynch unsicher. Er trat mit dem Fuß auf und versank dabei im Laub.
»Verdammt noch mal. Woher kennst du mich?«
»Ich habe Sie schon mal gesehen.«
»Ach ja? Wo und wann?«
»In der letzten Nacht in Ihrem Haus!«
Dieser Satz verschlug dem Biologen die Sprache. Er wurde noch unsicherer. Seine Hände schlossen und öffneten sich, und es war zu hören, wie er ein Knurren ausstieß, das Carlotta an das eines Tieres erinnerte. Möglicherweise stand er schon kurz vor der Verwandlung.
»Was hast du da gesehen?«
»Sie!«
»Und weiter?«
»Sie haben da nicht ausgesehen wie jetzt. Sie sind jemand anderer gewesen.«
»Und wer war ich?«
»Halb Mensch, halb Tier.« Carlotta hatte praktisch auf diese Antwort hingearbeitet und wartete jetzt voller Spannung darauf, wie der Biologe reagieren würde.
Er tat zunächst nichts. Carlotta hörte ihn heftig atmen und dann vernahm sie seine Antwort.
»Wenn du das gesehen hast, dann hast du zu viel gesehen, und das ist dein Pech.«
Diese Worte waren keine Überraschung für Carlotta, denn sie hatte sich darauf einstellen können. Trotzdem spürte sie, wie sich die Haut auf ihrem Rücken spannte.
Wie tief steckte die Bestie bereits in ihm? War sie schon stärker als die menschliche Seite?
»Bitte«, sagte sie halblaut mit leicht vibrierender Stimme. »Was habe ich Ihnen getan? Warum wollen Sie mich angreifen?«
»Du kennst mein Geheimnis.«
»Und?« Sie hob die Schultern. »Ist das so schlimm? Jeder von uns hat doch ein Geheimnis. Ich gehöre auch dazu.«
»Das ist mir egal. Ich kann es nicht hinnehmen, dass man es kennt.« Er atmete jetzt schwer. »Du bist zu neugierig gewesen und…«
»Aber es ist Ihre Schuld!«, unterbrach sie ihn. »Ja, es ist Ihre Schuld.«
»Warum?«
»Sie haben Maxine Wells aufgesucht. Sie sind freiwillig bei ihr erschienen, und Sie haben sich dort so benommen, dass sie einfach misstrauisch werden musste. Deshalb können Sie mir keinen Vorwurf machen. Es ist klar, dass dies Folgen haben würde. Und vielleicht kann ich Ihnen sogar helfen. Unter Umständen ist es möglich, Sie von Ihrem Fluch zu befreien. Eine Morgana Layton darf nicht immer gewinnen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Nein, das will ich nicht!« Er ging einen weiteren Schritt auf Carlotta zu.
Er war noch ein Mensch. Nichts wies bisher auf eine Verwandlung hin, abgesehen von seinem Blick. Er erschien ihr verschlagen und prüfend, als würde er darüber nachdenken, was er mit ihr anstellen sollte.
Carlotta wusste sehr wohl, dass sich die Gefahr verdichtet hatte. Noch hatte sie ihr Geheimnis wahren können. Noah Lynch wusste nicht, wer sie wirklich war, und sie wollte es auch so lange wie möglich für sich behalten.
Aber sie schaute sich bereits um, ob sie an einem Ort stand, der sich als Startplatz eignete. Um die Flügel ausbreiten und auf und ab schwingen zu können, brauchte sie einen gewissen freien Raum, und der war hier nicht unbedingt gegeben. Zwar standen die Bäume nicht sehr dicht beisammen, aber sie würden sie schon behindern.
Vielleicht würde sie wegkommen, doch sicher war das nicht. Besser wäre eine Flucht zu Fuß gewesen, um dann einen geeigneteren Startplatz zu finden.
Noah Lynch war noch nervöser geworden. Den Grund dafür kannte Carlotta nicht. Es lag bestimmt nicht an ihr, da sie nach wie vor keine Reaktion zeigte und einfach nur abwartete, was noch passieren würde.
Noah Lynch schüttelte sich, als wollte er etwas loswerden, was ihn störte. Er riss sogar seinen Mund weit auf, der noch nicht zu einem Maul mutiert war. Die Zunge zuckte hervor, und aus der Mundöffnung drangen scharfe Atemlaute.
In diesen Momenten war er mehr mit sich selbst
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