16 - Im Schatten des Grossherrn 05 - Durch das Land der Skipetaren
des Erzvaters Noah. Aber, Sihdi, ich schlage vor, daß wir nicht weiter eindringen. Warten wir lieber, bis es Tag ist.“
Ich stimmte sehr gern bei. Wenn ich dem alten Mübarek auch keine außergewöhnlichen physikalischen Kenntnisse zutraute, so konnten die seinigen doch vollständig ausgereicht haben, irgend einen wirkungsvollen Apparat zum Unschädlichmachen fremder Eindringlinge zu erfinden. Wir schlossen also wieder zu und löschten die Fackel aus.
Eben als wir den Heimweg antreten wollten, kam eine weibliche Gestalt auf uns zugehuscht. Ich erkannte ihr Gesicht nicht. Sie aber ergriff meine Hand und drückte, bevor ich es zu hindern vermochte, ihre Lippen darauf.
„Ich sah beim Schein der Fackel, daß du es bist, Effendi, und muß dir nochmals danken.“
Es war Nebatja, die Pflanzensucherin.
„Was tust du hier oben?“ fragte ich sie. „Warst du bereits da, als wir die Gefangenen holten?“
„Nein. Es ist keine Freude für mein Herz, solch unglückliche Menschen zu sehen. Aber ich war im Hof des Kodscha Bascha, als du verurteilt werden solltest. Herr, du bist tapfer gewesen, aber du hast dir auch einen bösen Feind erworben.“
„Wen? Den Mübarek?“
„Den meine ich nicht, obgleich auch er dich haßt. Ich meine den Kodscha Bascha.“
„Ich glaube wohl, daß er mir nicht seine besondere Liebe schenken wird; aber als Feind brauche ich ihn nicht zu fürchten.“
„Ich bitte dich dennoch, sei vorsichtig!“
„Ist er ein so schlimmer Gast?“
„Ja. Er ist die Obrigkeit, aber im stillen unterstützt er die Leute des Schut.“
„Ah! Woher weißt du das?“
„Er war oft des Nachts hier oben bei dem Mübarek.“
„Hast du dich nicht getäuscht?“
„Nein. Ich habe ihn beim Mondschein sehr deutlich gesehen, und ich habe ihn in dunkler Nacht an der Stimme erkannt.“
„Hm! Bist du so oft hier oben gewesen?“
„Oft, trotzdem es mir vom Mübarek verboten worden. Ich liebe die Nacht. Sie ist die Freundin des Menschen. Sie läßt ihn mit seinem Gott allein und duldet nicht, daß er im Gebet gestört wird. Auch gibt es Pflanzen, die man nur des Nachts suchen darf.“
„Wirklich?“
„Ja. Wie es Pflanzen gibt, welche nur des Nachts duften, so gibt es überhaupt solche, die nur des Nachts wachen; am Tage aber schlafen sie. Und hier oben gibt es solche Nachtfreundinnen, bei denen ich dann sitze, um mit ihnen zu sprechen und auf ihre Antwort zu lauschen. In der letzten Zeit war mir das schwer gemacht. Heute aber hast du meinen Feind entlarvt; er befindet sich in Gefangenschaft, und da bin ich nun gleich heraufgegangen, um mir nach Mitternacht einen König zu holen.“
„Einen König? Ist das auch eine Pflanze?“
„Ja. Kennst du sie nicht?“
„Nein.“
„Sie ist ein König, denn wenn sie stirbt, so stirbt das ganze Volk mit ihr.“
Ich hatte hier ein ganz eigenartig und tief angelegtes Frauengemüt vor mir. Dieses Weib mußte im Schweiß der Arbeit für ihre Familie sorgen und fand doch noch Zeit, des Nachts stundenlang mit den Pflanzen zu verkehren, mit ihnen zu sprechen und die Geheimnisse ihres Daseins zu erlauschen.
„Wie ist der Name dieser Pflanze?“ fragte ich neugierig.
„Es ist die Hadsch Marrjam. Wie schade, daß du sie nicht kennst!“
„Ich kenne sie; aber ich habe nicht gewußt, daß sie einen König hat.“
„Nur wenige Menschen wissen es, und unter diesen wenigen ist selten einer so glücklich, einen König zu finden. Man muß die Hadsch Marrjam sehr lieb haben und ihre Art und Weise ganz genau kennen; dann findet man den König. Das Volk wächst gern auf unfruchtbaren Stellen, an Bergen, Felsenbrüchen und öden Halden. Es steht stets im Kreise, der oft klein, oft auch groß ist, und ganz genau im Mittelpunkt dieses Kreises steht der König.“
Das war mir freilich neu. Hadsch Marrjam heißt ‚Kreuz Mariens‘, und ganz dieselbe Pflanze wächst auch in Deutschland und wird im Volk Marienkreuzdistel genannt. Wie sonderbar, daß der Name auf den Höhen des Erzgebirges gerade so lautet, wie am Babuna- oder Plaschkawitzagebirge in der Türkei!
Die Frau fuhr in ihrem Lieblingsthema fort:
„Diese Distel ist sehr dürr und spröd; sie wird nicht hoch und hat einen dünnen Stengel; aber der König ist breit und wird alle Jahre breiter. Sein Stengel ist so dünn wie eine Messerklinge; aber er kann so breit wie zwei Hände werden und trägt oben einen langen, schmalen Distelkopf, auf dessen dunkeln Grund eine helle Zickzackschlange gezeichnet ist. Diese Schlange
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