16 - Im Schatten des Grossherrn 05 - Durch das Land der Skipetaren
leuchtet des Nachts.“
„Ist das wahr?“
„Ich belüge dich nicht, Herr. Ich habe es oft gesehen und werde es auch heute wieder sehen. Wenn man den Distelkönig fortnimmt, so gehen alle seine Untertanen ein. Nach Verlauf eines Monats sind sie tot. Sonst aber werden sie sehr alt. Der König, welchen ich heute hole, ist wohl gegen zehn Jahre alt.“
„Aber wenn du ihn holst, so geht ja sein Volk ein!“
„O nein! Es ist ein neuer, junger König gewachsen; da kann man den alten fortnehmen. Das muß am Sonntag nach dem Neumond geschehen, am heiligen Tag der Christen, deren Himmelskönigin Marrjam ist. An diesem Tag leuchtet der König am schönsten; er leuchtet, selbst abgeschnitten, dann noch einige Nächte. Da hat er seine beste Kraft. Heute ist der erste Sonntag nach Neumond; darum hole ich mir den König in dieser Nacht. Wenn du Zeit hättest, könntest du ihn leuchten sehen.“
„Ich würde mit dir gehen, denn ich interessiere mich außerordentlich für solche Geheimnisse der Natur; aber ich muß leider hinab in die Stadt.“
„So bringe ich ihn dir morgen abend, da leuchtet er auch noch.“
„Ich weiß nicht, ob ich dann noch in Ostromdscha sein werde.“
„Herr, willst du so schnell fort?“
„Ja. Ich kam nicht her, um lange zu verweilen, und meine Zeit ist mir karg zugemessen. Doch sage: welche Kraft schreibt man dem Distelkönig zu?“
„Die gewöhnliche Hadsch Marrjam heilt, als Tee getrunken, die Lungensucht, falls diese nicht gar zu alt geworden ist. Die Distel hat einen Stoff, welcher die winzig kleinen Krankheitstiere tötet, die sich in der Lunge befinden. Von dem König aber sagt man, daß er den Lungensüchtigen noch vom Grab wegnähme.“
„Hast du das probiert?“
„Nein; ich glaube es, denn der Schöpfer ist allmächtig und kann, wenn er will, den kleinsten Pflänzchen eine große Kraft verleihen.“
„So komm morgen zu mir und zeige mir den König, wenn ich noch da bin. Weißt du, wo ich wohne?“
„Ich habe es gehört. Schlafe wohl, Effendi!“
„Gut Glück mit dem König, Nebatja!“
Sie ging.
„Sihdi, glaubst du das von dem König der Disteln?“ fragte mich Halef im Weiterschreiten.
„Ich bezweifle es nicht.“
„Ich habe noch nie gehört, daß Pflanzen ihre Herrscher haben.“
„So glaubst du es also nicht. Nun, wenn sie mir diesen Beherrscher der Hadsch Marrjam bringt, wirst auch du ihn sehen.“
Ich ahnte heute nicht, daß ich dem Distelkönig bald mein Leben zu verdanken haben würde. Daß die Pflanzensucherin sich heute seinetwegen hier oben befand, sollte mir zum größten Vorteil gereichen. Übrigens ist der Distelkönig wirklich keine fabelhafte Pflanze. Ich habe zwischen Scheibenberg und Schwarzenberg im sächsischen Erzgebirge auf einer kahlen, abgeholzten Höhe ein Marienkreuz-Distelvolk gefunden und bin volle vier Tage dort geblieben, um nach dem König zu suchen.
Das Terrain, über welches sich die Disteln ausgebreitet hatten, bildete wirklich einen ziemlich regelrechten Kreis. Ich umwanderte den Umfang desselben und schritt dann verschiedene Radien nach der Mitte zu ab, doch lange ohne Erfolg. Endlich aber fand ich den Gesuchten an einem Punkt, an welchem ich oft vorübergekommen war, ohne den König zu sehen, da er von einem Büschel dichten, dürren Schmeelgrases ganz umgeben war. Er rechtfertigte genau Nebatjas Beschreibung; ich schnitt ihn ab und besitze ihn noch heute. Als ich nach ungefähr vier Monaten wieder nach Annaberg kam, unternahm ich neugierig und trotz Mangel an Zeit die Fußpartie nach dem Fundort – die Untertanen waren eingegangen.
Diesen Beweis von der Wahrheit der Beschreibung Nebatjas hatte ich freilich hier in Ostromdscha noch lange nicht; aber dennoch glaubte ich ihr. Der große Linné erzählt ja mit schöner Anerkennung, daß er seine besten Funde und Beobachtungen infolge von Winken gemacht habe, welche er von einfachen, oft noch weniger als einfachen Menschen erhielt. Das Kind des Volkes hat einen liebevolleren Blick für die Heimlichkeiten der Natur, als der sogenannte bevorzugte Mensch. –
Im Ort angekommen, begaben wir uns zu dem Kodscha Bascha, bei welchem ich das Verzeichnis anfertigte. Seine kleinen Augen funkelten, als wir den Inhalt der drei Geldbeutel zählten. Er fragte nochmals an, ob ich ihm die Absendung nicht überlassen wollte, aber ich bestand darauf, daß ich das selbst besorgen werde. Es sollte sich sehr bald zeigen, daß ich daran wohlgetan hatte. Aber er drang darauf, jedenfalls um mich
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